Worin unterscheiden sich Erzählperspektiven?
Um zu verstehen, was ein auktorialer Erzähler kann, hilft es, sich kurz bewusst zu machen, was die andern Erzählperspektiven können.
Bei einer Ich-Perspektive bin ich auf das beschränkt, was meine Hauptfigur sagt, denkt und tut. Alles andere liegt außerhalb dessen, was ich als Autorin erzählen kann, und der Leser weiß immer nur, was diese eine Figur weiß. Die personale Perspektive gibt mir etwas mehr Spielraum. Ich kann hier auch Dinge zeigen, die andere Figuren erleben oder wissen. Durch geschickte Perspektivwechsel kann ich Lesern einen Informationsvorsprung vor der Hauptfigur verschaffen und so eine Menge Spannung erzeugen. Den größten Spielraum habe ich mit einem allwissenden oder auch auktorialen Erzähler. Er kann alles zeigen, was ich will.
Ich schicke meinen Erzähler von Figur zu Figur, von Schauplatz zu Schauplatz, ich kann die Figuren von oben, von unten oder von innen betrachten, kann die ganze Welt überblicken oder sogar ins Unbewusste meiner Figuren eindringen, und ich kann von Dingen erzählen, von denen meine Figuren nichts ahnen. Ein solcher Erzähler kann sich sogar aktiv in die Geschichte einschalten, Leser direkt ansprechen und Ereignisse und Figuren kommentieren und erklären.
Je nachdem, wie stark sich der auktoriale Erzähler in die Geschichte einmischt, sind sich Leser mehr oder weniger bewusst, dass es ihn gibt, wie im folgenden Beispiel – Thackeray stellt seine Figuren gleich unumwunden als Romanfiguren vor:
William Macpeace Thackeray: Jahrmarkt der Eitelkeiten (1847/1848)
Im Leben wie in Romanen, wo sich – hauptsächlich in letzteren – eine Unmenge Bösewichter der finstersten Sorte herumtreiben, ist es nur ein Glück, wenn wir solch ein harmloses und gutherziges Wesen zur ständigen Gefährtin haben dürfen. Da Amelia keine Heldin ist, brauchen wir ihr Äußeres nicht zu beschreiben. Für eine Heldin war ihre Nase auch leider ziemlich kurz.
Im 19. Jahrhundert war es üblich, dem Leser zu vermitteln, dass er eine Geschichte las. Man ist sich dabei jederzeit bewusst, dass man die Geschichte nicht aus einer Figur heraus erlebt, sondern dass man die Figur zusammen mit dem Erzähler betrachtet. Es entsteht also eine gewisse Distanz. Zugleich erlebt man eine starke Erzählerstimme, der man vielleicht gern zuhören möchte. In dieser Erzählhaltung, die dem Leser verspricht, ihm eine Welt zu entfalten, liegt auch heute noch ein großer Reiz.
Dabei entsteht allerdings leicht das Missverständnis, dass es hier der Autor sei, der zum Leser spricht – und dieses Missverständnis führt wiederum leicht dazu, dass Leser sich belehrt und informiert fühlen, statt gut unterhalten. Ein auktorialer Erzähler kann also auch schnell altbacken und didaktisch klingen, wenn man nicht geschickt damit umgeht. Wenn das jedoch gelingt, entstehen Texte von großer Welthaltigkeit und Dichte.
Die Schriftstellerin Patricia C. Wrede hat bemerkt, dass die größte Schwierigkeit mit dem auktorialen Erzähler nicht in einer handwerklichen Beschränkung der Möglichkeiten liegt – es gibt nämlich keine Beschränkungen – sondern in seiner Vielseitigkeit:
Wer auktorial schreibt, kann wirklich alles machen, was er will. Du kannst mitten in der Szene die Handlung anhalten und die gesamte Lebensgeschichte eines Taxifahrers erzählen, der in dem Roman nur ein einziges Mal auftaucht, und zwar auf der fünfzehnminütigen Taxifahrt der Hauptfiguren vom Flughafen zu ihrem Hotel. Du kannst ein paar Sätze aus der Perspektive der Katze einbauen, die die Hauptfiguren von einem Fenstersims gegenüber dem Hotel aus beobachtet. Du kannst in einem einzigen Satz in die Köpfe von sechs verschiedenen Figuren hineingehen, oder einen Absatz oder eine Szene lang im Kopf einer einzigen Figur bleiben oder sogar über den gesamten Roman hinweg. (http://www.pcwrede.com/viewpoint-problems-2-omniscient; Übersetzung: Lisa Kuppler)
Die Schwierigkeit liegt entsprechend eher darin, sich zu überlegen, was man macht und warum man es macht. Man möchte schließlich keinen unklaren, schwammigen Text schreiben, sondern einen, der Leser mitnimmt. Wrede schreibt weiter: Die Probleme liegen […] oft in Inkonsistenz, Verwirrung oder Unklarheit, die immer dann entstehen, wenn man nicht wirklich durchdacht hat, wie man die allwissende Perspektive gestalten möchte. Oft verwenden die Autoren dann willkürlich jede scheinbar passende Technik, in der Hoffnung, dass am Ende schon alles irgendwie funktionieren wird.
Schauen wir uns also an, für welche Art von Romanen sich ein auktorialer Erzähler eignet, was ihn ausmacht, wo die Fallstricke sind und wie man sie vermeidet.
Ein auktorialer Erzähler braucht große Stoffe
Die Schriftstellerin Meg Wolitzer sagt, wenn man als ‚ernsthafte‘ Schriftstellerin ernst genommen werden möchte, muss man auktorial schreiben. Nach einigen Romanen, die bei der Kritik wenig Beachtung fanden, war es ihr ausdrücklicher Plan, aus der Sparte der ‚Frauenliteratur‘ mit bunten, romantischen Bildern auf dem Cover herauszukommen, und einen großen, amerikanischen Gesellschaftsroman zu schreiben:
Meg Wolitzers bis dato größter Erfolg war ein Roman mit dem Titel ‚The Wife‘ gewesen, 200 Seiten kurz, mit einer Ich-Erzählerin. Der neue sollte ‚das Gegenteil‘ sein. […] Entsprechend ist in ‚Die Interessanten‘ ein auktorialer Erzähler am Werk, der vierzig Jahre überblickt und in viele Köpfe schaut. Vier Dekaden amerikanischer Geschichte breiten sich aus: Vietnam, Nixon, Nicaragua, Reagan, die Liste ist noch viel länger. Der Irak-Krieg, das Wall-Street-Fieber, das schmutzige und das gentrifizierte New York, die schlimmen Jahre mit Aids. Die Protagonisten, die Wolitzer 1974 in einem Sommercamp zum ersten Mal versammelt, sind Figuren aus eigenem Recht, und zugleich sind sie Repräsentanten.
Sie sagt, man bracht außerdem:
Nicht nur ein[en] Umschlag mit Schriftlösung und wenigstens fünfhundert Seiten, sondern auch wenigstens eine Familie und wenigstens eine Generation. Dazu eine ordentliche Portion Gesellschaftsgeschichte und ein alles verbindendes Leitmotiv, das am besten gleich im Titel steht: […] ‚Die Interessanten‘. https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article131866532/In-einer-gerechteren-Welt-wuerden-Sie-mich-kennen.html)
Außer im großen Gesellschaftsroman begegnet uns die auktoriale Erzählweise aktuell auch in der epischen Fantasy und Science Fiction, die manchmal als ‚Ideen-Literatur‘ bezeichnet wird, und in breit angelegten historischen Panoramen. Und egal, ob Gesellschaftsroman, epische Science Fiction oder Menschheitsgeschichte: Nicht immer, aber meistens sind es Schwarten ab 500 Seiten aufwärts, die sich einer auktorialen Erzählweise bedienen.
Ein auktorialer Erzähler eignet sich also bestens für …
• Geschichten über große gesellschaftliche Entwicklungen und Konflikte.
• ‚Ideenliteratur‘.
• Zeit- oder Sittengemälde.
• Geschichte, die sich über lange Zeiträume erstrecken.
• Gechichten mit einem großen Figurenarsenal.
• Hauptfiguren, nicht nur Individuen sind, sondern auch typische Repräsentanten für ihre Zeit oder Welt.
Der auktoriale Erzähler ist nicht der Autor
Warum nicht, und worin unterscheidet sich der Autor / die Autorin von der Erzählerstimme? Der Autor ist derjenige, der jedes einzelne Wort in einem Roman schreibt. Auch die Dialoge, die erlebte Rede, alles. Der Erzähler hingegen ist eine eigenständige Figur mit einer ausgeprägt eigenen Stimme, die all das zu einem Roman beiträgt, was keine unmittelbaren Lebensäußerungen der Figuren sind.
Bei einer Ich-Perspektive ist das am einfachsten zu verstehen: Der Erzähler ist die Hauptfigur, punkt. Ein auktorialer Erzähler kann dem Autor zum Verwechseln ähnlich sein. Der Erzähler könnte jedoch zum Beispiel auch eine Figur innerhalb oder außerhalb des Romans sein. Oder ein archaischer Gott oder der Tod.
Eine starke Erzählerstimme
Oft hat der auktoriale Erzähler eine Haltung zum Geschehen, er hat, wenn er die Geschichte erzählt, bereits sein Fazit gezogen und kennt das Ende, und das spürt man beim Lesen auch.
Darin unterscheidet sich die auktoriale von der personalen Perspektive: Dort vergisst man leicht, dass es überhaupt einen Erzähler gibt. Das liegt daran, dass er nicht gesehen werden will. Er versteckt sich im Text, und damit er nicht gesehen wird, lässt er sich vom Stil der handelnden Figuren ‚anstecken‘: Er erzählt so, wie die Figuren denken, fühlen und die Welt wahrnehmen.
Die Stimme des auktorialen Erzählers ist hingegen eher weniger durch die Weltsicht der Figuren und mehr durch seine eigene Weltsicht geprägt. Aber Achtung: Die meisten Leser empfinden es als unangenehm, wenn der Erzähler sich zu sehr in den Vordergrund drängt. Er darf als ausdrucksstarke Stimme präsent sein, aber er sollte sich nicht wichtig tun.
Sie werden also eher nicht schreiben:
Lieber Leser, Daniel konnte das natürlich nicht wissen, sonst wäre er längst fort gewesen, aber vierzig Kilometer von seinem Geburtshaus entfernt flog an diesem Nachmittag der Hauptreaktor eines Kernkraftwerks in die Luft.
Sie könnten stattdessen schreiben:
Vierzig Kilometer von Daniels Geburtshaus entfernt flog an diesem Nachmittag der Hauptreaktor eines Kernkraftwerks in die Luft.
Der auktoriale Erzähler soll erzählen – nicht erklären
Wenn man eine schlecht geschriebene auktoriale Perspektive liest, merkt man das daran, dass man sich von der Erzählerstimme belehrt und bevormundet fühlt. Das passiert immer dann, wenn ein Erzähler Lesern zu erklären versucht, wie wir das, was im Roman geschieht, zu interpretieren haben. Es ist dann so, als versuche uns jemand zu sagen, was das Geschehen zu bedeuten hat.
Leser wollen aber nicht erklärt bekommen, was von der Geschichte zu halten ist. Sie wollen sie erzählt bekommen und sich dann selbst eine Meinung bilden.
Die meisten Leser sind zudem bei großen Welterklärungen überhaupt misstrauisch geworden – die Welt ist viel zu komplex geworden, als dass einer ‚alles‘ über sie wissen könnte. Insofern kann kein allwissender Erzähler heute mehr wirklich allwissend sein. Aber er kann und sollte seine eigene Haltung zu dem haben, was er weiß – und das ist definitiv mehr, als die Figuren des Romans.
Wenn ich also z.B. einen Roman über einen aus Syrien nach Deutschland geflüchteten Handchirurgen schreibe, dann vermeide ich es besser, Lesern zu sagen, wie sie das Geschehen politisch einzuordnen haben. Ich überlasse dem Leser die Parteinahme.
Fokuswechsel zwischen verschiedenen Figuren
Autoren, die sich für eine personale Perspektive entscheiden, haben die Option, zwischen den Figuren zu wechseln. Hier gilt als verbreiteter Leitsatz, das bloß nicht willkürlich zu tun und mitten in der Szene plötzlich in eine andere Figur zu schlüpfen (‘head hopping’), wenn es keine klare erzählerische Funktion hat.
Ein Figurenwechsel findet hier kontrolliert und meist zum Ende einer Szene oder eines Kapitels statt. Das ist so, als würde der personale Erzähler das Reitpferd wechseln: Er treibt das eine Pferd bis zum Höhepunkt seiner Leistung, doch kurz bevor es zusammenbricht (= die Spannung aufgelöst wird), wechselt er und setzt die Reise auf einem ausgeruhten Pferd fort. Je gezielter ich die Perspektivfiguren wechsele, desto länger kann ich spannende Fragen offen halten.
Was für einen personalen Erzähler ‚Pflicht‘ ist, ist beim auktorialen Erzähler optional: Ich kann innerhalb einer Szene konsequent bei einer Figur bleiben – ich muss aber nicht. Hier habe ich ausdrücklich die Möglichkeit, von Satz zu Satz oder sogar innerhalb eines Satzes in den Kopf, die Füße oder das Herz verschiedener Figuren zu steigen – wenn es der Geschichte dient und es ein bewusst gewähltes Stilmittel ist. Ich könnte also durchaus schreiben:
Carlo dachte an seine kalten Füße, Lana wünschte sich nur noch nach Hause, Tom fragte sich, wie er das seiner Mutter erklären sollte, und Jenny dachte absolut nichts.
Nähe und Distanz regulieren
Die meisten auktorial erzählten Geschichten wechseln fließend zwischen Überblick/Distanz zum Geschehen und unmittelbarer Nähe zu den Figuren. Sie nutzen dabei alles, was die personale Perspektive auch kann, gehen aber darüber hinaus und blenden zwanglos zwischen verschiedenen Erzählmodi hin und her. Im folgenden Beispiel kann man gut sehen, wie man verschiedene Möglichkeiten im selben Text nutzen kann.
Wir sehen die Figuren zunächst von außen – also Dialog und sichtbares Verhalten – wir sind dicht bei den Figuren, ohne Einmischung des Erzählers:
Kurt Vonnegut: Der taubenblaue Drache (Kein & Aber 2013)
„Man nimmt nämlich ein Hühnchen zum Braten, zerkleinert es und bräunt es mit zerlassener Butter und Olivenöl in einer heißen Pfanne“, sagte der Gefreite Donnini. „In einer bereits genügend erhitzten Bratpfanne“, fügte er gedankenschwer hinzu.
„Augenblick mal“, sagte der Gefreite Coleman, der wie wild in ein kleines Notizbuch schrieb. „Wie groß ist das Huhn?“
„Etwa vier Pfund.“
„Für wie viele Personen?“, fragte der Gefreite Kniptash scharf.
„Genug für vier“, sagte Donnini.
„Vergiss nicht, dass ein Huhn aus ziemlich vielen Knochen besteht“, sagte Kniptash argwöhnisch. […]
Im nächsten Ausschnitt taucht man in die Figur ein – Vonnegut nutzt hier erlebte Rede als Stilmittel:
„Das ist gut“, sagte Kniptash träumerisch, „aber wisst ihr, was ich als allererstes kriege, wenn ich wieder in den Staaten bin?“
Donnini ächzte innerlich. Er wusste es. Er hatte es hundertmal gehört. Kniptash war sicher, dass es kein Gericht auf der Welt gab, welches seinen Hunger stillen konnte, deshalb hatte er eins erfunden, ein kulinarisches Monster. […]
Und so endet die Passage – mit einem glasklaren, auktorialen Überblick:
Es war Anfang März 1945. Kniptash, Donnini und Coleman waren Kriegsgefangene. Stabsunteroffizier Kleinhans war ihr Bewacher. Er sollte sie dazu anhalten, die Milliarden Tonnen von Schutt zu ordentlichen Steinpyramiden aufzuhäufen, Stein auf Stein, um dem nicht existierenden Verkehr Platz zu machen. Eigentlich wurden die drei Amerikaner für kleinere Verstöße gegen die Lagerdisziplin bestraft, aber ihr Geschick war, wenn sie jeden Morgen unter den traurigen blauen Augen des desinteressierten Kleinhans zur Arbeit auf den Straßen ausrückten, weder besser noch schlechter als das ihrer Kameraden hinter Stacheldraht, die größeres Wohlverhalten an den Tag gelegt hatten. Kleinhans verlangte nur, dass sie beschäftigt wirkten, wenn Offiziere vorbeikamen. Nahrung war das einzige, was die Kriegsgefangenen an ihrer schmalen Existenzebene begeistern konnte.
Filmischer oder ‚objektiver‘ Stil
Wie gesagt, ein auktorialer Erzähler kann offen zeigen: Hier ist eine Geschichte, und ich erzähle sie! Er kann aber ebenso gut entscheiden, dass er den Leser – wie im Film – zum reinen Beobachter eines Geschehens machen will. Die Gedanken und Gefühle der Figuren spielen hier kaum eine Rolle, wie auch im Film: Man sieht und hört, was es zu sehen und zu hören gibt, aber man schaut nicht in die Köpfe hinein. Die Filmkamera kann dabei allerdings alles Mögliche zeigen, was die Figuren nicht sehen können.
Wenn ich in einem in dieser Weise ‘objektiven’ Stil schreibe, wähle ich also lediglich aus, was ich zeige, aber ich kommentiere und werte nicht. Dadurch fließt natürlich wenig bis gar kein Figurenstil ein. Das bedeutet, ich schreiben nicht so, wie meine Figuren die Welt wahrnehmen und erleben, sondern so, wie ich das Thema eines Romans am besten vermitteln kann. Wenn das Thema Würde für meine Geschichte zentral ist, könnte ich z.B. schreiben:
Der Tag, an dem Dora Hotchkiss hingerichtet werden sollte, war ein Dienstag. Es war der 8. April 1954, und trotz der frühen Stunde war die Luft bereits drückend und schwül. Dora wurde von zwei Männern durch einen weiß gestrichenen Gang geführt. Beide hatten ihre Fingerspitzen nur leicht, beinahe respektvoll an Doras Ellenbogen gelegt, um sie zu führen oder im Notfall zu stützen. Doch es gab keinen Notfall. Dora schritt aufrecht und zügig auf die Tür zu, hinter welcher der elektrische Stuhl auf sie wartete.
Der Stil ist hier direkt und klar heraus. Metaphern, Vergleiche, Symbole, also die Stilmittel eines eher indirekten Schreibens haben hier keinen Platz.
TIPP: Schaut Euch mal eine Filmszene an und beobachtet bewusst, auf welche Weise die Kamera als ‚allwissender Erzähler‘ eingesetzt wird. Was wird gezeigt? Welche Schnitte werden gesetzt? Was ist zu hören und zu sehen und was erfährt man auf diese Weise alles, ohne dass es eine Stimme aus dem Off erklären muss? Wissen die Hauptfiguren alles, was auch Ihr erfahrt?
Eigene formale Regeln erstellen
Die schier unendlichen Möglichkeiten des auktorialen Erzählers sind verlockend – andererseits heißt das, ich muss hier weit mehr und komplexere Entscheidungen treffen, als bei einem Ich- oder einem personalen Erzähler, die durch handwerkliche Konventionen von vornherein beschränkt sind.
Wenn man mal in diese, mal in jene Figur eintauchen, mal von innen und mal außen erzählen und das alles für Leser in einen größeren Kontext einbetten und kommentieren kann, entsteht möglicherweise eine reichhaltige Welt. Die Schwierigkeit besteht beim auktorialen Erzähler jedoch darin zu entscheiden, was man nutzen möchte und was nicht.
Patricia C. Wrede weist darauf hin, dass es wichtig ist, sich für einen auktorial erzählten Roman eigene formale Regeln zu erstellen; sie schreibt: Doch wenn du deine Regeln einmal festgelegt hast, dann musst du dich daran halten. Du kannst nicht immer einfach alles so schreiben, wie dir gerade ist und dann erwarten, dass das immer funktioniert.
Um zu entscheiden, was man mit der allwissenden Erzählerperspektive machen möchte, muss man bewusst darüber nachdenken.
Das heißt beispielsweise: Ist der Erzähler eine Figur im Roman oder nicht? Ist er sichtbar oder zurückhaltend? Wird in die Figuren rein- und rausgezoomt oder wird alles aus einer (vielleicht ironischen) Distanz erzählt? Bleiben wir bei einer Figur oder bei mehreren? Nach welchen Regeln wechselt man die Perspektive? Welche Blickpunkte werden zugelassen? Steige ich zum Beispiel regelmäßig aus der Vogelperspektive in ein Kapitel oder Szene ein – oder ist es interessanter, wenn ich vielleicht regelmäßig erst die Hände einer Figur in den Blick nehmen?
Das Thema bestimmt die Regeln
Grundsätzlich sollten alle formalen Entscheidungen dazu beitragen, das Kernthema einer Geschichte zu unterstützen. Wenn ich einen auktorialen Erzähler wähle, habe ich es wahrscheinlich mit einem epischen oder ‚großen‘ Stoff zu tun, in dem die Figuren nicht nur Individuen, sondern auch Repräsentanten ihrer Welt oder Epoche sind. Die erste Regel, für die ich mich entscheide, lautet also wahrscheinlich, dass ich nach mehr strebe als nach Nabelschau einer einzigen Hauptfigur.
Bleiben wir kurz bei dem Beispiel mit den Händen. Nehmen wir an, ich schreibe einen Roman über die Größe und die Niedertracht des Menschen an und für sich; ich zeige Menschen in einer historischen Situation, in der sich beides in voller Ausprägung zeigt. Ich könnte dabei Hände als widerkehrendes Motiv oder Symbol auswählen, denn mit den Händen ‚handeln‘ wir, und Taten wiegen bekanntlich mehr als Worte. Die Entscheidung, Figuren zu charakterisieren, indem ich den Blick immer zuerst auf das richte, was sie heimlich oder offen mit ihren Händen tun, wäre dann also dem Thema geschuldet.
MERKE: Formale Entscheidungen sollten danach getroffen werden, wie gut sie das Thema unterstützen.
Zum Beispiel: Eine einsame Hauptfigur könnte man aus maximaler Nähe betrachten, vielleicht schildert man sogar, was in ihrem Unbewussten vor sich geht, während man die Welt um die Figur herum für den Leser auf Distanz hält. So kann man das Thema ‚Einsamkeit‘ auch durch die Form vermitteln.
Oder: Ich schreibe z.B. über eine Gruppe von Jugendlichen in den 1960er Jahren, die hochfliegende Träume von einer besseren Gesellschaft träumen, die sich mit den Jahrzehnten jedoch verlieren, bis die Figuren desillusioniert im Jetzt angekommen sind. In diesem Fall will man die Figuren zunächst vielleicht als Gruppe zeigen, als gemeinsamen Akteur mit einer gemeinsamen Perspektive. Und erst nach und nach zerfällt die Gruppe in Einzelteile und damit getrennte Perspektiven.
Oder: … Die Möglichkeiten sind tatsächlich so vielfältig, wie die Vielfalt der Romane!
Seid mutig!
Patricia C. Wrede weist darauf hin, dass der Versuch, mit einem auktorialen Erzähler zu schreiben, oft an fehlendem Mut scheitert, die Möglichkeiten auszuschöpfen. In den meisten Schreiblehrgängen und in der Ratgeberliteratur werdet Ihr zunächst einmal lernen, all das, was der auktoriale Erzähler ausdrücklich darf, zu vermeiden. Man übt, bloß nicht aus Versehen in eine auktoriale Erzählhaltung hineinzurutschen. Und dann ist es natürlich schwer, anschließend wieder umzudenken und alles zu tun, was vorher als “falsch” galt. Wrede schreibt dazu:
Wer auktorial schreibt, sich jedoch zu eng an die Konventionen der personalen Perspektive (kein head hopping, jede Szene durchgehend in einer Figurenperspektive etc.) hält, verleitet Leser und Kritiker dazu, den Text als einen personal geschriebenen zu lesen. Jede Abweichung von der personalen Perspektive wird dann als störend oder als Fehler empfunden. Und bei einem Text, der sich eng an die Beschränkungen der personalen Perspektive hält, fragt man sich, warum er eigentlich nicht gleich personal geschrieben wurde.
Das Großartige am auktorialen Erzähler ist, dass Ihr Eure eigenen, unkonventionellen Regeln aufstellen dürft! Benutzt sie also – konsequent und deutlich.
MERKE:
• Entscheidet Euch, ob Euer auktorialer Erzähler eine konkrete Figur innerhalb oder außerhalb des Romans ist oder lediglich eine Stimme.
• Entscheidet Euch, ob Ihr mit einer ausgeprägten Erzählerstimme oder mit einem zurückhaltenden, vielleicht sogar ‚objektiven‘ Erzähler arbeiten wollt.
• Vermeidet Erklärungen, wie Leser das Geschehen zu deuten und zu bewerten haben.
• Stellt Eure eigenen formalen Regeln auf: Wann und wie Ihr zwischen Figuren wechselt, wie Ihr Nähe und Distanz zum Leser regulieren wollt und welche Blickpunkte Ihr grundsätzlich verwendet und welche nicht.
• Achtet darauf, dass Eure formalen Entscheidungen das Thema der Geschichte unterstützen.
[…] Ein auktorialer Erzähler weiß und darf alles, er kann jederzeit (begründet) den Fokus wechseln. Das heißt aber auch: Er braucht einen klaren Fokus, um ihn überhaupt wechseln zu können. Man würde sich hier also dafür entscheiden, alles, was geschieht, auf Simon zu beziehen. Selbst, wenn man sich entscheidet zu schreiben, was jede einzelne Figur in dieser Szene denkt, würde man erfahren, was das für Auswirkungen auf Simon hat. […]