Gelegentlich kann man über Michael Jackson lesen, er hätte unter einer body dismorphic disorder, einer psychischen Störung gelitten, bei der man sich selbst als monströs wahrnimmt, während man in Wirklichkeit ganz normal aussieht. Wenn man sich Michael als Tänzer – als Angry Dancer – ansieht, wird klar: Das kann nicht stimmen.
Es ist richtig, wie seine Maskenbildnerin Karen Faye und andere bestätigten, dass er in mancher Hinsicht unsicher war. Während der Pubertät wurde er von seinen Geschwistern ‚Big nose‘ und ‚Pickelgesicht‘ genannt, und sein Vater tönte, Michael sei so schwarz, dass er unmöglich sein Sohn sein könnte. (Gemeinheiten dieser Art gehörten offenbar zum Familiensystem, denn Michael lästerte seinerseits über Janets ‚dicken Hintern‘.) Die Krankheiten Vitiligo und Lupus und ihre Folgeerscheinungen und der Brandunfall, der ihn einen Teil seiner Haare kostete, dürften ihren Teil dazu beigetragen haben.
Der Platzhirsch
Andererseits ging Michael, wie er sagte, ohne jegliches Lampenfieber auf die Bühne. Er wusste genau, wie das Publikum auf seine Körpersprache reagierte. Er war souverän, selbstsicher, herausfordernd, ein Swagger. Er war sich seiner Wirkung auf Frauen wie Männer bewusst, wenn er tanzte, ächzte und schluchzte, sich in den Schritt griff, das Hemd vom Leib oder den Mund zu einem seiner Brunftschreie aufriss.
Er kannte die Wirkmechanismen des Verführungsspiels und inszenierte sie u.a. im Musikvideo zu Who is it, in dem eine Edelprosituierte die Hauptrolle spielt – ein Alter Ego für ‚Michael Jackson‘. Menschen, die ihn persönlich erlebt haben, beschreiben die enorme Präsenz, mit der er einen Raum betrat. Er war automatisch der Platzhirsch, alle Blicke richteten sich auf ihn.
Unter Menschen, die er gut kannte, war er gern laut und albern. Unter Menschen, die er nicht gut kannte, bewegte er sich sparsam und war höflich-zurückhaltend, vielleicht in dem Bestreben, niemanden mit seiner Präsenz zu überrollen oder zu erdrücken. Wenn er sich jedoch auf der Bühne befand, war Sinn und Zweck seines Körpereinsatzes, die Leute durch schiere Präsenz in die Hysterie zu treiben.
Wer hat die Kontrolle?
Wie aber konnte gerade dieser Mensch, den man in Interviews als unsicher und manchmal mädchenhaft kichernd erlebte, sich vor zehntausend Menschen die Seele zum Hals raussingen, tanzen, schreien, schwitzen, sich selbst unsittlich berühren, auf die Knie fallen und Tränen vergießen? Wie kann jemand so ekstatisch werden, wenn er doch ‚eigentlich‘ so gehemmt ist?
Die einfache Erklärung: Auf der Bühne nimmt man eine Rolle an, streift die Haut eines Andern über und ‚tut so, als ob‘. So könne man das verhasste ‚wirkliche‘, unsichere Selbst für eine kurze Zeitspanne hinter sich lassen und vergessen.
Auf der Bühne zu stehen, wäre dann eine Art Fluchtbewegung und genau jener ‚Eskapismus‘, der Michael Jackson als Angebot für seine Fans so wichtig war. War Michael also auf der Bühne glücklich, weil er dort sich selbst entfliehen konnte und er nicht ‚er selbst‘ sein musste? Oder war er im Gegenteil genau deshalb glücklich, weil er dort ‚er selbst‘ sein konnte?
When I am entertaining, sagt er in einem Gespräch, I am … I am in control. I take them where I want to take them and I am the navigator. And when I am not in that element I am a bit like, ‚What are you looking at? Why are you staring at me?‘ It’s embarrassing. (Honoring the Child Spirit, S.71)
Genau darum geht es: Auf der Bühne hatte Michael Jackson die Kontrolle.
Jemanden vorführen
Unsicherheit zeigte Michael Jackson als Erwachsener vor allem dann, wenn Leute ihm ungefragt zu nahe traten und er nicht in der Lage war, die Situation zu kontrollieren.
Im Interview – wo er oft besonders unsicher wirkte – hat hingegen der Interviewer die Kontrolle. Es ist seine Profession, zu reden und sein Gegenüber dorthin zu manövrieren, wo er es haben möchte. Er steuert die Situation und ist der Vorführer, und der Interviewte der Vorgeführte. In Michael Jacksons Fall zunehmend: der Freak in der Sideshow.
Für ihn wurden Interviews zunehmend zur Verhörsituationen, und er wusste vorher nicht, gegen welche Anwürfe er sich diesmal zu verteidigen haben würde.
Michaels Domäne
Hinzu kommt, Michael Jacksons primäres Ausdrucksmedium als Künstler war nicht die gesprochene Sprache, sondern Bilder, Körper und Stimme in ihren emotionalen, unmittelbaren Ausdrucksqualitäten.
Wenn er Worte benutzte, dann waren es sorgfältig ausgetüftelte, oft mit mehreren Bedeutungsebenen ausgestattete Lyrics.
Frei improvisierte Sprache, die vor allem intellektuellen Sinn erzeugen soll, war nicht seine Domäne, und wenn er als Performer richtig in Fahrt war, konnte man oft nicht mal verstehen, was er sang – weil es dann nur noch darum ging, wie er sang. Es ging um die Energie, die Emotion. Hier konnte er Strippen ziehen und Knöpfe drücken, wie er wollte.
Wie ein Künstler die eigene Domäne beherrscht, sagt mehr über ihn, als dass er andere Domänen nicht beherrscht. Interessanterweise hat man Michael Jackson jedoch seine Ungeschicklichkeit in Interviews oft zum Vorwurf gemacht. Die weiche Stimme, der naiv anmutende Idealismus, der spaßbetonte Lebenswandel schienen in scharfem Kontrast zu dem zu stehen, was man auf der Bühne und in den Kurzfilmen sah: Das scharfe, oft aggressive Bühnentier.
I want to rock with you all night …
Um mit emotionaler Aufrichtigkeit singen und tanzen zu können, muss ein Mensch Zugang zu Emotionen haben, den erhabenen wie den niederen, und er muss auch in der Lage sein, sie zum Ausdruck zu bringen. Um mit Ausdruckskraft tanzen zu können, muss er auch im eigenen Körper zuhause sein und sich darin sicher fühlen.
Man braucht für die Art von Performance, die Michael Jackson geliefert hat, nicht nur ein Bewegungstalent, man braucht auch sexuelle Energie, die künstlerisch kanalisiert wird. Tanz ist eine sublimierte Form von Sex – was deutlich wird, wenn man sich traditionellere Formen des Tanzes wie Flamenco oder Tango oder die zahllosen Fruchtbarkeitstänze in allen möglichen Kulturen anschaut. Selbst ein Walzer ist eine keusch verhüllte Metapher für die Vereinigung von zwei Menschen, die sich ‚miteinander drehen‘, und in der gesamten Popmusik ist die Formel ‚let’s dance‘ ein anderer Ausdruck für ‚lass es uns machen‘.
Wenn man sich Michaels Disco-Hit Rock with you anhört und ‚rock‘ konsequent durch ‚fuck‘ ersetzt, wird deutlich, was gemeint ist.
Michael Jacksons Zugang zum Tanzen zu begreifen, bringt die Person und den Performer, die auf den ersten Blick so wenig zusammenzupassen scheinen, auf denselben Nenner. Auch hier wieder: Michael Jackson war nicht entweder auf der Bühne oder im Alltag ‚echt‘. Es handelt sich beim Bühnen-Jackson und beim Alltags-Jackson einfach um zwei Modi derselben Person.
Was macht Tanz zu Tanz?
Was genau machte Michael Jackson zu einem solch außergewöhnlichen Tänzer? Woher nahm er die Intensität?
Nach dem This is it -Konzert-Fiasko – Jackson starb kurz vor dem Ende der Proben – haben sich praktisch alle, die an der Show gearbeitet hatten, zu Michael geäußert; so auch die Tänzer. Misha Gabriel beschrieb, dass von Michael buchstäblich Energie ausging:
There’s no better feeling than dancing behind Michael. There really isn’t. You know, I’m a dancer and this is what I do every day, all day, it’s what I eat, breathe and sleep. I’ve never felt that I danced as good as I did from dancing behind Michael. And it wasn’t because I was afraid that I need to dance better to keep up. It’s the energy you get from him.
Ein anderer der Tänzer, Timor Steffens, erklärte Michaels Intensität folgendermaßen:
When I came to this rehearsal and I see the way Michael danced in real live, I started to doubt myself – what I was doing is actually not dancing! I tried to understand about why is dancing dancing? You know what I mean? Because dancers, that, for example, do only body movement, isolations and everything – what is beautiful – but it’s not really dancing. It’s isolating movements on rhythm. And dancing is getting lost. Dancing is the feeling that you have. And when I started to rehearse with Michael Jackson, if you look closely what Michael Jackson is really doing, and listen to the music, he is an instrument of music. If you were deaf, could not hear music, and you’ll look at him, you will see the music play in his body. And that just changed my whole view of dancing, it changed my whole point of view on life. I learned so much, I just was like reborn in dance again.
Michael selbst hat immer wieder darauf verwiesen, dass Tanz nicht aus dem Kopf kommt, nicht vom Taktzählen und Schritte machen, sondern aus der Musik und aus dem Körper.
Mit dem Körper sprechen
Zu Michael Jackson dem Tänzer fällt den meisten Leuten zuerst der Moonwalk oder der Lean ein, vielleicht auch die bekannte Choreografie zu Thriller.
Es sind jedoch gerade nicht die ausgefeilte Choreografien, die ihn als Tänzer zu etwas Außergewöhnlichem machten. Es liegt auch nicht daran, dass er technisch so unglaublich versiert gewesen wäre – es gibt im Urban Dance junge Leute, die Dinge vollbringen, zu denen Michael körperlich vermutlich nicht in der Lage gewesen wäre.
Wenn man sich die Konzertproben-Dokumentation This is it (2009) anschaut, fällt das im direkten Vergleich ins Auge: Die jungen, durchtrainierten Tänzer wirbeln mit Salti, Schrauben, Spagat und Sprüngen über die Bühne wie Hochleistungssportler.
Zwischen ihnen läuft ein manchmal recht müder Michael Jackson herum, kleiner, älter und viel dünner als das ganze Frischfleisch, das durchs Bild turnt. Manchmal vollzieht er nur die nötigsten Bewegungen, um einen Ablauf anzudeuten.
Dennoch ist er in jedem einzelnen Moment der Tänzer, ihm schaut man gebannt zu – und die bestens ausgebildeten Leute, die in langen Auswahlverfahren aus Hunderten von Bewerbern herausgepickt wurden, sind kaum mehr als Statisten. Warum ist das so?
Timor Steffens hat es im obigen Zitat bereits gesagt: Es ist etwas anderes, ob man zum Rhythmus der Musik isolierte Bewegungen vollziehen kann – oder ob die Musik sich durch den Körper ausdrückt. Die Flamnco-Tänzerin und Choreografin Lubov Fadeeva sagt etwas Ähnliches:
Talent in this art form originates not from technique but from the ability to speak and paint with your body, to express nuances and find an individual style of your body movement. An artist achieves complete grandeur in dance if he can transform a tiny gesture into a small spectacle, a sacred act. Michael Jackson knew how to do it. That’s why he was a genius.
Tatsächlich hat es genügt, dass Michael den Hut aufsetzte oder einen einzelnen Finger bewegte, um alle Blicke auf sich zu ziehen und Leute in Hysterie zu treiben. Technische Virtuosität oder Worte waren dafür nicht notwendig.
Der erste Weltstar, der ebenfalls nicht durch Worte, sondern durch seine unverwechselbare Körpersprache weltweit verstanden und verehrt wurde, war Charlie Chaplin, von dessen Timing Michael viel gelernt hat. Er hat auch in ganz ähnlicher Weise eine Sprache aus den für ihn typischen Moves und Gesten entwickelt, die mit den Jahren zunehmend ritualisiert war.
Einstudiert oder spontan?
Als ich angefangen habe, mir Aufzeichnungen von Konzerten anzusehen, war mir allerdings lange nicht klar, ob die Bewegungen auf der Bühne bis auf den kleinsten Fingerzeig durchchoreographiert sind, oder ob Michael sich frei bewegt.
Es gab auch Momente, die mich unangenehm berührt haben – vor allem, wenn er auf der Bühne ‚inszenierte Tränen‘ vergoss. Während She’s out of my life wurde beispielsweise regelmäßig eine lange Spannungspause eingebaut: Michael geht in die Hocke, bedeckt das Gesicht mit dem Arm und beginnt zu schluchzen. Ähnlich am Ende von Will you be there, wenn aus der Bühnenmaschinerie ein großer Rauschegoldengel herabschwebt und den weinenden Michael tröstend mit den Flügeln umfängt. Sentimentalität und Kitsch – die das Publikum zuverlässig an den Rand der emotionalen Auflösung brachten.
Waren die Tränen fake? Oder waren sie echt?
Für Fake / Choreographie sprach die offensichtliche Wiederholbarkeit der emotionalen Ausbrüche. Und auch: Michael Jackson agiert mit den andern Tänzern auf der Bühne synchron. Das funktioniert nur, wenn die Nummern einstudiert sind.
Für Echtheit / Improvisation hingegen sprachen der schiere Reichtum und die Nuanciertheit der Bewegungen und die beeindruckende Beiläufigkeit, mit der Jackson sich bewegte. Das konnte wohl kaum bis auf dieses Detailniveau einstudiert worden sein. Oder doch?
I don’t even know where I’m going
Your expression has to be in line with what you´re feeling in your body, erklärt Michael Jackson. So, in what I do, I don’t even know where I’m going. It’s just improvisation. It creates itself. But you still have to put your body through hell to express yourself. You have to be that dedicated. (Honoring the Child Spirit, S.28)
Der Tänzer und Choreograph Jeffrey Daniels, der bei den Musikfilmen zu BAD und Smooth Criminal mitgearbeitet hat, beschreibt, wie die Choreographien entwickelt wurden: Man improvisierte gemeinsam, oft bis spät in die Nacht, tüftelte die Abläufe aus und übte sie am Tag darauf mit den andern Tänzern ein.
Wenn dann letztendlich die Kamera lief, löste Michael sich spontan für ein paar Takte aus der Choreografie, tat etwas Unerwartetes, um sich dann wieder nahtlos in die zuvor geprobten Abläufe einzuklinken.
Daniels beschreibt, dass Michael so sehr in der Musik gelebt habe, dass er sich jederzeit frei darin bewegen konnte. Der berühmte Griff in den Schritt, der erstmals im BAD-Video zu sehen ist, ist auf diese Weise entstanden: als Ausdruck der in diesem Moment fließenden Energie.
Rituale als emotionale Trigger
Ebenso war es bei den Konzerten: Bestimmte Abläufe waren definiert, da musste Michael an einer bestimmten Stelle auf der Bühne in einer bestimmten Pose oder Choreographie punktgenau einrasten. Was dazwischen geschah, hing von der Tagesform ab.
Die rituelle Wiederholung bestimmter Gesten und Moves sorgte dafür, dass dann auch tatsächlich diese eine Geste genügte, um in sich selbst und im Publikum ein ganzes Bündel an Assoziationen und Emotionen zu triggern.
So konnte hinter einem einzigen Fingerzeig tatsächlich eine Fülle an Bedeutung entstehen, die mit linearen, sprachlichen Mitteln gar nicht herzustellen wäre. Genau das ist gemeint, wenn Tanz als abstrakte Sprache beschrieben wird.
Und so erklärt sich auch, dass Michael Jackson in bestimmten Momenten auf der Bühne zuverlässig zu weinen begann – und das Publikum mit ihm. Die Emotionen waren nicht gespielt, sondern sie traten durch das Ritual hervor und verbanden Bühne und Zuschauerraum miteinander.
Die Choreografien, die Jackson nutzte, dienten also nicht der Dekoration, damit zum Gesang auch optisch irgendetwas Nettes passierte, sie dienten der Ritualisierung – und im Ritual gehen festgelegte Abläufe und freier Ausdruck eine besonders kraftvolle Verbindung ein.
Until there is only … the dance
Improvisation kann man als den Kern allen künstlerischen Schaffens beschreiben. Auch eine niedergeschriebene, wiederholbare Komposition oder ein bis auf die letzte Silbe durchgeformtes Gedicht basieren auf einer ursprünglichen Improvisation. Man muss an irgendeinem Punkt beginnen und erst einmal etwas hinschreiben. Idealerweise in einem Zustand des Flow, sodass ein Ausdruck von etwas entsteht, das durch die Worte, Pinselstiche, Noten oder Bewegungen durchscheint.
Danach erst kann man mit diesem Material arbeiten und daran feilen, es mit handwerklichen Mitteln perfektionieren. Entsprechend kann man im eigentlichen Sinne kein Tänzer sein, solange man jemand anderen oder sich selbst imitiert oder Geübtes mechanisch wiederholt. Denn das Wesentliche des Tanzes, das Durchlässigwerden für das, was Jackson the dance of creation nennt, findet nicht statt, solange man im bloßen Handwerk steckenbleibt.
Um zu tanzen, muss man selbst zum Tanz werden, wie Jackson es in beschreibt: I keep on dancing and then, it is the eternal dance of creation. The creator and creation merge into one wholeness of joy. I keep on dancing and dancing … and dancing, until there is only … the dance. (Dacing the Dream)
Study the greats and become greater
Damit kein Missverständnis entsteht: Natürlich erlernt man eine Kunst durch Nachahmung und handwerkliches Training. Natürlich kann man mit der Schaffung eines Werkes beginnen, indem man bekannte Methoden und Techniken anwendet und sich von dort aus weitertragen lässt.
Und auch Michael Jackson hat, wie jeder andere Künstler, vieles von dem, was er nutzte, von Vorbildern übernommen. I don’t know if I would be the same entertainer without Charlie Chaplin and Jackie Wilson and Sammy Davis Jr. I wouldn’t. They taught me a lot. About timing and rhythm and pathos and all those great things, sagt er beispielsweise (Honoring the Child Spirit, S.53).
Andere bekannte Vorbilder für seinen Bewegungskanon waren: James Brown (der schnelle Shuffle), Bob Fosse (einer der Moonwalker, die den Move vor Jackson nutzten), Fred Astaire (Stepptanz-Elemente, der hohe Kick, der Zehenstand, Eleganz), Disneys Peter Pan (die Jungenhaftigkeit, der stampfende Indianertanz), West-Side-Story (Broadway-Elemente), Streetdance (Popping and Locking), usw. … Und natürlich hat Jackson mit verschiedenen Choreografen zusammengearbeitet, die wiederum den Einfluss ihrer Vorbilder mit eingebracht haben.
Eines von Jacksons Motti, das er auf einer Notiz zum Smooth-Criminal-Dreh festgehalten hat, lautete: Study the greats and become greater. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, weil jeder Künstler auf den Schultern derer steht, die vor ihm da waren und transformiert, was er von ihnen mitnimmt.
Auf diese Weise entstand Michael Jacksons ureigene Ausdrucksweise, die, gerade weil sie abstrakt war, ohne Umwege etwas Wesentliches anzusprechen vermochte. Was genau war dieses Wesentliche?
Das Wesentliche ausdrücken: Ektase
I dance to express my bliss, erklärte Jackson 1992 Glenn Pliskin von der Chicago Tribune. I do not strain at practice when I`m dancing. I just feel that the dance is dancing itself through me. I’m an instrument for the expression of ecstasy.
Michael Jackson war, was die meisten Leute nicht wissen, belesen. Er interessierte sich für spirituelle Schriften aller Traditionen, für Anthropologie, Psychologie, Kunstgeschichte, Medizin, Biologie, Geschichte, … Trotz seines sanften Tonfalls und der scheinbar schlicht-naiven Aussagen, die er in Interviews von sich gab, wählte er seine Worte mit Bedacht.
I’m an instrument for the expression of ecstasy – das mag sich etwas prätentiös anhören, oder wie Angeberei.
Es steckt mehr dahinter. Ektase ist nicht einfach ein anderes Wort für Lust oder Vergnügen. Ektase ist in gewisser Weise sogar ein Gegenbegriff zu Lust, die die Befriedigung eines Begehrens oder Mangels meint.
Ekstase beinhaltet hingegen die Fähigkeit zur Selbstvergessenheit, zur Aufgabe von Kontrolle und Eigensucht sowie geistige und körperliche Hingabe an den Moment.
In manchen spirituellen Traditionen gibt es Sexualpraktiken, in denen nicht die Befriedigung im Vordergrund steht, sondern die Auflösung des Ich und die Verschmelzung mit dem Du in einer gemeinsamen Erfahrung von Lebendigkeit. In andern Traditionen wird diese Art der Erfahrungen durch Gesänge, Tänze, Meditationen oder Gebete erreicht.
In jedem Fall geht es jedoch um eine Entgrenzung des Ich und eine Rückverbindung mit dem Ursprung; es wird eine Erfahrung von ursprünglicher Lebendigkeit gesucht. Auch das Wort Religion bedeutet auf Deutsch nichts anderes als Rückverbindung.
Leiblose Religion
Religion richtet sich in der christlich geprägten Kultur allerdings eher nicht an den Leib. Sie strebt nicht Ektase an, sondern das intellektuelle Erfassen eines ästhetischen und/oder moralischen Konzepts. Religion ist in diesem Kontext keine Erfahrung des Ursprungs in sich selbst, sondern eine Theologie.
Anders Gesagt: Religion bedeutet, an die Erfahrung eines anderen zu glauben, während Ektase eigene spirituelle Erfahrung ist.
Religion beinhaltet meist auch ein Kontrollsystem, das Körperlichkeit nur in einem eng abgegrenzten Territorium erlaubt, wo sie nicht zu vermeiden ist – bei der Reproduktion.
Das Fleisch gilt dabei als dumm, träge, wollüstig und todgeweiht, und nur der Geist ist erhaben und überdauert.
Spiritualität und Körperlichkeit, die in unserer Kultur normalerweise getrennt werden, fließen in Michael Jackson jedoch wieder zu einer beunruhigend-begehrenswerten Einheit zusammen. Es ist bezeichnenderweise der Smooth-Criminal–Film, der bei Jackson nach einer langen Phase des Zweifelns zu einer Abwendung von der institutionalisierten Religion und der Hinwendung zu einer freier interpretierten Spiritualität geführt hat.
Beim Dreh des Videos wurde er von Zeugen Jehovas, die jegliche Aggression ablehnen und zu seiner Beobachtung und Überwachung abgestellt waren, vor die Wahl gestellt: Entweder, er verzichtet auf die Veröffentlichung des Videos. Oder er tritt aus der Kirche aus.
Michael hat sich gegen die Kirche entschieden und ist den religiösen Kinderschuhen, die von jeher an einen strafenden Vatergott gewöhnt waren, entwachsen.
Sakrale Sex-Tänze
Ektase-Techniken sind in andern spirituellen Traditionen als der christlichen fest verankert und hängen fast immer mit Rhythmus und Tanz zusammen. Sie werden in vielen Kulturen als das empfunden, was in der diesseitigen Welt dem ‚Schöpfungsakt‘ am nächsten kommt. Jackson inszeniert einige dieser Traditionen im Black-or-White-Film: Er tanzt mit einem afrikanischen Stamm, Tempeltänzerinnen, indigenen Amerikanern, …
Solche Tänze dienten ursprünglich nicht der Unterhaltung. Vielmehr handelte es sich um ‚Kommunikationstechniken‘, die eine Verbindung zur geistigen Welt herstellen sollten.
Die Romantiker lauschten der ‚Musik der Sphären‘, im Hinduismus werden Tempeltänze, im Christentum Gesänge und Gebete, im Sufismus schnelle Drehtänze, in den schamanischen Traditionen Trommel oder Rassel benutzt, um mit dem Ursprung in Kontakt zu kommen. Michael Jackson nannte es, wie gesagt, den dance of creation.
Auf der Bühne gewinnt tänzerischer Ausdruck natürlich größere Unmittelbarkeit als im Film, weil hier die Kommunikation zwischen Schamane/Showman und Publikum ungehindert fließen kann. Hier findet statt, was Jackson zum selbsterklärten stage-addict machte: Ein ekstatisches Ritual und gelegentlich auch ein symbolischer sexueller Akt.
Wenn man sich beispielsweise die spannungsgeladene Shake your Body–Darbietung von der BAD-Tournee (1987, Yokohama) anschaut, wird das deutlich. Gegen Ende es Songs steht einer der Tänzer dicht am Bühnenrand und ergeht sich in aufreizend langsamen, wellenförmigen Bewegungen.
Michael und die andern Tänzer beobachten ihn mit einer Mischung aus Faszination und Missbilligung. Aus dem Hintergrund hört man die Stimme eines Background-Sängers: Das sei aber ziemlich unanständig, was der Junge da treibt, besonders in diesen Hosen, und Michael möge doch bitte mal hingehen und das beenden.
Michael geht also hin. Doch statt den Tänzer zu korrigieren, fällt er nach einem Moment des Zögerns selbst in dessen unanständige Bewegungen ein. Noch wehrt er sich, unterbricht seine Hüftaktivitäten, doch die Musik ist stärker … Shake your body – die Aufforderung richtet sich an die gesamte im Ritual versammelte Gemeinde: Schüttele deinen Körper, schüttele deinen Hintern, schüttele deinen mächtigen Schwanz (your mighty funky), heißt es da. (So viel zum Thema, Michael sei zu gehemmt gewesen um eindeutige Worte in den Mund zu nehmen.)
Viele Fans waren bereits vor einem Konzert derart auf die Erfahrung von Ektase eingestellt, dass sie nach einem oder zwei Songs in Raserei verfielen, das Bewusstsein verloren und von der Security aus der Menge gezogen werden mussten.
Michaels langjähriger Schlagzeuger Jonathan Moffett beschreibt, dass bei den Konzerten ununterbrochen Leute in Ohnmacht fielen. Was für ein Anblick das von der Bühne aus gewesen sein muss: Die See aus Armen, die sich in den Rhythmen wiegt, und auf den Wellen treiben immerzu neue Leiber nach vorne Richtung Bühne, wo sie von Sanitätern in Empfang genommen werden.
Überhöhung natürlicher Rhythmen
Unterhaltungsmusik ist in der Regel nicht mehr direkt mit Bedeutung besetzt, sie erzeugt vor allem unterschiedliche Stimmungen – Reggae erzeugt eine andere Stimmung als HipHop, ein Sechsachteltakt macht emotional etwas anderes als ein Viervierteltakt.
Dass Menschen überhaupt Rhythmen erschaffen, um sich darin verlieren zu können, kommt möglicherweise daher, dass wir Teil der Natur sind, und Vorgänge in der Natur auf Rhythmen basieren. Jacksons Gedicht Planet Earth, eine Art Präludium zum Earth Song, ist eine Liebeserklärung an den Planeten, der (ganz in romantischer Tradition) als ein lebendiges Gegenüber angesprochen wird. Dort heißt es:
In my veins I’ve felt the mystery / of corridors of time, books of history / life songs of ages throbbing in my blood / have danced the rhythm of the tide and flood.
Blut wird rhythmisch durch die Adern gepumpt, die Gezeiten sind rhythmisch, alle Zyklen der Natur haben ihre Rhythmen. Musikalische Rhythmen nehmen natürliche Rhythmen auf und überhöhen sie. Dies ist die Art, wie Musik das Dasein als solches verehrt: Sie sorgt dafür, dass man es intensiver spürt.
Michaels Herzschlag
Am Anfang der Album-Version von Smooth Criminal weist Jackson direkt auf diesen Zusammenhang zwischen natürlichen und musikalischen Rhythmen hin: Das Stück beginnt mit seinem eigenen, mit dem Stethoskop abgenommenen Herzschlag. Es ist ein zuerst ruhiger, fester Beat, der dann jedoch schneller und schneller wird, wie der eines Menschen in Angst, und der schnelle Herzschlag geht in den schnellen, treibenden Backbeat des Stückes über. Solche gleichmäßigen, treibenden Beats spiegeln und erzeugen aktive Zustände: Flucht, Kampf, Sexualität.
Synkopen hingegen, wie Jackson sie z.B. in Will you be there benutzt, haben eine beruhigende, tröstende Wirkung, während ein Shuffle wie etwa in The way you make me feel antreibend und lebensfroh wirkt und Bewegung erzeugt.
Angry Dancer
In der christlichen Religion haben Rhythmen und Tänze ihre rituelle Funktion weitgehend verloren. Das Christentum hat zwar einige der heidnischen Feste und Riten in ihren Kalender übernommen, ekstatische Tänze wurden dabei jedoch ausgeklammert.
Und im kommerziellen Pop ist Tanz selten mehr als sportgymnastische Dekoration.
Bei Michael Jackson waren Tanzbewegungen zu Anfang seiner Karriere zunächst ebenfalls eher dekoratives Element. Sieht man sich frühe Auftritte mit den Jackson Five an, erkennt man zwar das Talent, aber noch keinen Tanz im ekstatischen Sinne.
Die Motown-25-Sendung aus dem Jahr 1983 könnte man möglicherweise als Michael Jacksons Initiation zum ekstatischen Tänzer beschreiben. Er zeigt hier zum ersten Mal seine Billie-Jean-Performance, die er mit den Jahren immer mehr ausarbeitete und zu der der Moonwalk untrennbar dazugehört.
Im Anschluss an die Sendung rief ein begeisterter Fred Astaire Michael an und nannte ihn einen hell of a mover und einen angry dancer – und Michael musste sich vor lauter Aufregung, dass sein großes Idol ihn angerufen hatte, erst einmal übergeben.
Astaire meinte mit angry sicherlich nicht ‚ärgerlich‘ im Sinne von ‚wütend‘ oder ‚böse‘. Angry beschreibt vielmehr jene Intensität, die offenbar nur besonders eindrucksvolle Tänzer erreichen.
Anger and rage are the prelude to a shift in consciousness. Unless we feel rage at some of the inequities and injustices of our society, there is no hope for transformation, sagt Jackson 1992 im Interview mit der Chicago Tribune.
Wut und Ärger sind ein Katalysator für Veränderung, und genau das sehen wir auch häufig in Jacksons Kurzfilmen – in Beat it, BAD, They don’t care about us, Ghosts, Smooth-Criminal und, sehr prominent, in der Panther-Dance-Sequenz des Black or White Films (1991). (In der verlinkten Fassung sieht man die Pressereaktionen vorweg.) Wenn der schwarze Panther zu Michael Jackson morpht, bekommt das fast eine totemistische Note: Der Showman/Schamane scheint besessen vom Geist eines Tiers, das die Kontrolle übernimmt.
I don’t do dirty things
Ganz besonders die Panther-Dance-Sequenz ist im beschriebenen Sinne aggressiver Tanz.
Als das Video 1991 vor einem globalen Rekordpublikum erstmals ausgestrahlt wurde, verursachte die abschließende Tanzsequenz einen Skandal. Die entsetzen Kritiker haben darin damals vor allem ‚Sex und Gewalt‘ gesehen und fanden das Video Jugendgefährdend.
Selbst Regisseur John Landis hat nicht unbedingt erfasst, was er da eigentlich filmte. In einem Behind the Scenes Video wird das deutlich:
Einer der Choreografen möchte von Michael mehr funky und whirmy things sehen – sexuelle, wurmartige Bewegungen.
John Landis bringt es mit der für ihn typischen Ironie auf den Punkt: He wants to see more whirms. And can you grab your nuts some more?
Michael lacht, peinlich berührt: He’s peeking dirty. I don’t do dirty things. Er erklärt, er wisse schon, was der Choreograph meint, was Landis jedoch nicht unbedingt beruhigt.
Michael fügt hinzu: He’s so dirty.
Landis, halb verärgert: Excuse me! Was I …? [unverständlich]
Karen Faye, die gerade Michaels Make up erneuert, versucht zu beschwichtigen: It’s all in the mind.
Michael: Yes.
Landis schüttelt genervt den Kopf, dreht sich weg und spricht in die Kamera: Was I imagining that he was grabbing his nuts?!
Und etwas später, während die Einstellung gedreht wird, in der Michael seinen offenen Hosenstall zuzieht, erklärt Landis erneut direkt in die Kamera: I didn’t choreograph this. I’m just shooting.
Michael fragt ihn daraufhin: Are you too religious …?
Landis, erneut genervt: Too religious …?! , nach dem Motto: Ja klar, ausgerechnet ich zu religiös.
Es ist deutlich, dass die Sache ihm Sorgen macht, ihm viel zu sexy und heikel ist, er sich aber nicht durchsetzen kann. Michael will diese Szene so drehen, also wird sie so gedreht. John Landis ist dabei kaum mehr als ein widerstrebender Handlanger.
Katharsis
Wenn Michael meint, er mache keine schmutzigen Sachen, das finde alles bloß im Kopf statt, erklärt das, mit welcher Intention der Panther-Dance gedreht wurde – und wie er unweigerlich von den Kritikern aufgenommen werden musste: Der Schmutz war da. Docht war er in den Köpfen der Leute, und nicht in dem, was Jackson tat.
Ob Landis nicht versteht, was Michael ihm sagt, oder ob er lediglich den unausweichlichen Skandal voraussieht, ist nicht ersichtlich und vielleicht auch unerheblich.
Wichtig ist, dass Michael ebenfalls wusste, wie die Sache aufgenommen werden musste, er aber wieder in die Metakommunikation geht und das Publikum herausfordert, die Szene ‚unschmutzig‘ zu verstehen: Wo Kritiker Selbstbefriedigung und Lust an der Gewalt sahen, sollte man heiligen Zorn sehen, der in Tanz kanalisiert wird. Es ging nicht um Befriedigung, sondern um Katharsis.
Ich hatte nie den Eindruck, dass Michael Jackson ein besonders guter Schauspieler war. Um eine Emotion transportieren zu können, musste er sie – wie es im Stanislawsky-System oder im Method-Acting gelehrt wird – durchleben. Vielleicht war kein anderer Pop-Performer jemals in dieser Weise besessen und durchdrungen von dem, was sich durch ihn vermittelt hat.
Indem jemand so durchlässig macht, gibt er Zuschauern die Möglichkeit zum Mitempfinden – Freude, Hoffnung, Aufgehobensein auf der einen Seite. Und auf der andern Seite: Leidenschaft, Wut, Feuer.
Wenn man solche Gefühle in sich aufsteigen lässt und sie durchlebt, statt sie zu verdrängen oder zu tabuisieren, kann man sie hinter sich lassen. Es geschieht also das, was einst Aristoteles als Sinn und Zweck der Tragödie beschrieben hat: die kathartische Reinigung von Angst und Schmerz.
Zu weit gegangen?
Michael Jackson musste sich nach der Premiere des Black or White Kurzfilms, die weltweit simultan ein Rekordpublikum von 500 Millionen Menschen verfolgte, öffentlich für die als nicht jugendfrei beurteilte Sequenz entschuldigen. Er räumte ein, er habe es einfach laufen lassen und sei dabei möglicherweise zu weit gegangen.
Die Sequenz wurde in einigen US-Bundesstaaten komplett zensiert, in anderen wurde sie so weit entschärft, dass sie tatsächlich zahnlos und rein dekorativ wurde.
Wenn man die Sequenz heute anschaut, fragt man sich, warum eigentlich die ganze Aufregung? Es hatte bis dato im Fernsehen doch sicher schon weit mehr Sex und Gewalt gegeben? Wo lag das Problem?
Angry Black Man
Eine Ursache für den Panter-Dance-Skandal dürfte darin liegen, dass die Kritiker sich in ihrem Schrecken über die eigenen, heftigen Reaktionen nicht bewusst waren, dass sie gerade eine Katharsis miterlebten.
Sie mussten ihre ungemütlichen Gefühle auf irgendetwas Greifbares projizieren – und sie projizierten sie, wohin auch sonst, auf den, der sie hervorgelockt hatte. Es war nicht die Darbietung, die zu sexy oder zu aggressiv war – die Reaktionen waren es. Diejenigen, die am lautesten nach Zensur schrien, fühlten sich möglicherweise am stärksten bei ihren eigenen unsittlichen Regungen ertappt.
Tatsächlich dürften Gewaltverherrlichung oder sexuelle Anstößigkeit aber nicht der tiefere Grund gewesen sein, warum der Panther-Dance als skanadalös wahrgenommen wurde.
Obwohl die Sequenz natürlich für die Kamera geschnitten ist, basiert sie auf Improvisation.
It is the kind of improvised dance that goes back to dance’s original source. It is an absolutely unique case in contemporary pop culture of true, passionate, and spiritual dance; it cannot be seen anywhere else in this sphere, schreibt Lubov Fadeeva.
Es ging bei dem Skandal also möglicherweise mehr um die Qualität eines Tanzes, die entsteht, wenn man sich öffnet und es ‚einfach laufen lässt‘. Das Problem waren nicht ein paar eingedroschene Scheiben und ein offener Hosenstall. Es war die unverhohlene Ekstase im Modus einer heiligen Wut, und wogegen sie sich richtete:
Michael Jackson nahm auf, was in der Luft lag und vertanzte die kollektive Wut der aktuellen Rassenunruhen in L.A., die ihn emotional beschäftigten.
Anders als die Akteure auf der Straße schlägt er dabei jedoch nicht auf Menschen ein. Die Aggression richtet sich gegen das Ghetto als solches, das überall auf der Welt eine strukturelle Ursache von Hass und Ungleichheit ist. Michael Jacksons Panther Dance war vor allem dies: Ein wütender Aufschrei gegen Amerikas strukturellen Rassismus.
Es ist das Ghetto, das er hier zu Klump tanzt – und das war etwas, was man dem ehemalig netten Neger, dem Sing- und Tanzboy, nicht zugestehen wollte. Michael ist für diese Sequenz nicht umsonst als Black Panther angetreten, und das war das eigentlich Anstößige daran.
Im nächsten Artikel wird es darum gehen, wie die reaktionären Kräfte Michael Jackson sein ungebührliches Betragen heimzahlten.
Steffi meint
Hallo Frau Schmidt,
mit Spannung habe ich bereits letztes Jahr diese Artikel gelesen und zwischendurch immer mal geguckt, ob Sie weiter geschrieben haben. So vieles, was Sie beschrieben haben, habe ich mir auch immer über ihn gedacht. Als ich dann gesehen habe, dass ein Buch herausgekommen ist, habe ich es gleich gekauft und hatte die Hoffnung, dass dort auch die Artikel und Fortführung drin sind 😉 Schreiben Sie denn nochmal weiter? Hier oder gar in einem Buch?
Liebe Grüße, Steffi
Karla Schmidt meint
Liebe Steffi,
Danke für den schönen, ermutigenden Kommentar! Ich habe die Artikelreihe nicht weitergeschrieben, weil ich irgendwann zunehmend das Gefühl hatte, ich komme auf dem intellektuellen Weg nicht wirklich ans Thema ran. Zusammen mit Annette Jung habe ich dann diesen ganz andern Zugang über die Graphic Novel und das Biografische ausprobiert, und das war dann für mich erstmal zufriedenstellend.
Es kann aber gut sein, dass ich die Reihe irgendwann noch einmal um einzelne Aspekte ergänze und das zu einem Buch zusammenfasse. Ich kann nur im Moment nicht sagen, wann und wie …
Liebe Grüße, Karla
Steffi meint
Wirklich? Auf mich wirkten diese Artikel sehr besonders – mit einem wunderbaren Zugang auf intellektueller und gefühlstechnischer Ebene zu ihm als Mensch und als Performer. An vielen Stellen hatte ich das Gefühl, Sie fassen in Worte, was ich oft dachte oder vermutlich eher fühlte, aber nie so hätte in Worte packen können.
Das Comic-Buch ist übrigens wunderbar gelungen. Ich habe es an einem Abend angefangen und konnte es nicht mehr weglegen 😉 So oft musste ich schmunzeln und herzhaft lachen, aber auch schlucken und ja… schluchzen. Es ist ihnen Beiden wirklich gelungen, so viele Emotionen in einen Comic zu packen und es sehr auf die menschliche Ebene zu beziehen. Ich hätte es zugegebenermaßen bei einem Comic nicht erwartet, dass es mich an einigen Stellen so erwischt – emotional.
Ok, dann warte ich geduldig weiter 🙂 Mal schauen wann und wie…
Karla Schmidt meint
Oh … wow. Danke für dieses tolle Lob – sowohl für die Artikel als auch für den Comic. 🙂 Ja, man assoziiert “Comic” leicht mit “nicht ernsthaft” oder “nur was für Kinder”. Es ist jedoch eine Kunstform, mit der man dieselbe Tiefe erreichen und dieselbe Bandbreite an Emotionen erzeugen kann wie mit jeder anderen Kunstform auch. Es freut mich sehr zu lesen, dass uns das hier gelungen ist. 🙂
Steffi meint
Ja, es war zugegebenermaßen auch meine erste Erfahrung mit einem Comic 😉 Einige Szenen haben mich jedoch auch in die Kindheit zurückversetzt, als ich als Kind bestimmte Videos das erste mal gesehen habe oder schon als Kind das Moonwalk-Buch gelesen habe, was ich damals tatsächlich einige Male weglegen musste, da mich besonders als Kind die Erzählungen zu seinem Vater so mitgenommen hatten.
Allerdings ist es ja auch nicht leicht, gute Literatur zu ihm in Deutsch zu finden. Viele sehr gute Bücher (Joe Vogel etc.) gibt es nur in Englisch.
P. S. Könnten Sie meinen Namen beim letzten Kommentar in “Steffi” korrigieren? Gedankenverloren komplett eingegeben…
Karla Schmidt meint
Name ist korrigiert. 🙂
Ja, die besten Bücher sind wirklich nur auf Englisch zu haben. An Joe Vogel gefällt mir, dass er sich konsequent der kulturwissenschaftlichen Analyse zuwendet, sowohl was MJs Arbeit als auch seine Wahrnehmung in der Öffentlichkeit angeht. Manche Autor*innen heben ja eher auf wahlweise Dämonisierung oder Vererzengelung ab und bleiben damit letztlich bei den eigenen Reaktionen auf MJ hängen. Dabei gibt es da so viel mehr zu entdecken.
“Mensch Michael” ist für uns darum als Titel so wichtig gewesen: Menschen sind fehlbar, und Michael hatte definitiv auch seine schwierigen Seiten. (Wenn auch andere, als die Öffentlichkeit z.T. annimmt.) Manchen Fans gegenüber darf man am besten nicht mal andeuten, dass Michael auch mal Mist gebaut hat. Das ist wirklich schade, finde ich, weil er dadurch zur reinen Persona verflacht und die Person / der Künstler so gar nicht in allen Dimensionen gesehen werden kann.
Unter dem Aspekt “Menschlichkeit” hat mir auch Frank Cascios Buch gut gefallen. Und das seiner beiden Bodyguards.
“Moonwalk” habe ich erst als Erwachsene gelesen. Als Kind hätte es mich vermutlich gefesselt, aber aus der Erwachsenenpersektive war es mir zu glatt. Das ist auch nachvollziehbar, es sollte ja auch Marketing-Instrument sein. “Dancing the Dream” auch. Aber letztlich fand ich es aufschlussreicher, weil es einfach konsequent programmatisch Michaels Themen und Werte zum gegebenen Zeitpunkt ausbreitet.
Steffi meint
Ich verstehe, dass “Moonwalk” für einen Erwachsenen, erst Recht heutzutage, nicht so “faszinierend” wirkt. Damals jedoch Anfang der 90er (ich wurde 92 Fan mit 7 oder 8 Jahren und hab das Buch so 93-94 rum bekommen) war es die wohl “menschlichste” Sichtweise überhaupt, die man zu ihm bekommen konnte. Denn gerade um die Zeit rum herrschte Dämonisierung und es war die ganzen 90er Jahre hindurch nicht einfach, Fan zu sein.
Dadurch vermutlich, haben sich einige Fans auch einen gewissen “Panzer” zugelegt (zulegen müssen) und haben es wohl früher oder später auch aufgegeben, Konversationen mit Nicht-Fans über MJ zu führen, da es so gut wie nie objektiv oder wenigstens neutral zuging bei Gesprächen. Aus meiner eigener Erfahrung gab es in meinem Umfeld entweder Leute, denen er bestenfalls egal war oder die ihn eben in die besagten Schubladen gesteckt haben (Freak, Kinderschänder) und man war schnell ebenfalls in genau dieser Schublade drin. Das hat natürlich dazu geführt, dass man sich wohl seine eigene, manchmal beschränkte Sichtweise auf ihn zugelegt hat. Manche haben diese Sichtweise später nicht erweitert oder wollten sie nicht erweitern.
Für mich war er jedoch immer auch ein Mensch, gerade als Kind fand ich kaum einen anderen Star menschlicher 🙂 Dennoch war er auch so vielschichtig, zu vielschichtig, als dass ich das alles in Kindheits- und Teenie-Tagen hätte erfassen können. Später haben sich noch weitere Sichtweisen ergeben und auch ihre Artikel haben mir eine interessante Sicht auf die Dinge eröffnet.
Ich hab mich auch viele Jahre nicht wirklich intensiv mit ihm beschäftigt, um die 2000er mit 16 trat auch andere Musik auf den Plan und er trat in den Hintergrund. Ganz weg war er nie, aber nicht mehr so vordergründig. Als er starb, war ich unglaublich traurig, es hat aber nicht diese “neue Fan-Welle” bei mir ausgelöst, weil ich damals sehr abgestoßen war von diesem ganzen anlaufenden Vermarktungs-Zirkus der “Marke MJ”. Denn er als Mensch war nicht mehr da, da wollte ich auch keine neue “Best of-DVD” oder ähnliches.
Letztes Jahr und auch dieses Jahr im Januar war ich im Beat it-Musical und da ist es wieder passiert. Er hatte mich wieder fest im Griff 😉 Somit entdecke ich gewisse Dinge über ihn jetzt erst und bin erstaunt, wie viele wirklich tolle Artikel und Bücher es inzwischen über ihn gibt (ich begnüge mich allerdings momentan noch mit einzelnen Artikeln mit deutscher Übersetzung von Autoren wie Joe Vogel, Dr. Stillwater, Susan Fast usw., aber irgendwann werde ich mich wohl mal durch englische Bücher quälen).
Ich hoffe, das ist jetzt alles nicht schon zu OT (MJ ja, aber nicht mehr Artikel oder Buch).