In ein paar Tagen erschein mein nicht-linear erzählter Kurzroman Lügenvögel, und das ist der perfekte Anlass, um etwas Handwerkliches zum Thema Plotten und nicht-lineares Erzählen zu schreiben. Also, kann und sollte man nicht-lineare Geschichten plotten? Die Frage setzt natürlich voraus, dass man weiß, was ein Plot ist und was nicht-lineares Erzählen ausmacht. Zum Einstieg also eine kurze Begriffsklärung.
Ein Plot verknüpft Ereignisse miteinander: Etwas geschieht, darum geschieht als nächstes das, was wiederum das nächste Ereignis auslöst usw.. Die Ereignisse in einer Geschichte sind also von Anfang bis Ende kausal miteinander verbunden.
Und wo fängt eine Geschichte an, wo hört sie auf? Sie fängt an, wenn der Hauptfigur ein drängendes Problem begegnet, und sie hört auf, wenn das Problem auf die eine oder andere Art gelöst wurde.
Nicht-linear erzählte Texte haben auch einen Plot, aber er wird nicht hübsch ordentlich von A über B nach C präsentiert, sondern ist nach anderen Kriterien strukturiert.
Das heißt: Im Plot sind alle Ereignisse kausal verknüpft. Bei einer linearen Erzähl-Struktur werden diese Ereignisse in ihrer zeitlich richtigen Reihenfolge erzählt. In einer nicht-linearen Erzählstruktur werden sie in einer andern Reihenfolge erzählt. Plot und Erzählstruktur sind also zwei Paar Schuhe!
Erst plotten oder erst schreiben?
In Workshops oder bei Beratungen werde ich häufig gefragt, ob man denn wirklich, wirklich erstmal plotten muss, bevor man schreiben darf. Vor zwei, drei Jahren habe ich immer dazu gedrängt, zuerst zu plotten. Mittlerweile würde ich das nicht mehr so sagen.
Wer erstmal einfach drauflosschreibt, kann sich selbst mit superbunten Ideen überraschen, kann spontanen Assoziationen und Eingebungen mehr Raum geben. Das führt oft zu reichen, schönen Bildern und Ideen. Wenn man bei streng chronologisch erzählten Geschichten bleibt, die sich an den Erlebnissen einer einzigen Hauptfigur entlanghangeln, ist Drauflosschreiben ohne größere Umwege manchmal vielleicht sogar der beste Weg.
Vielen Schreibern geht allerdings dabei nach einer Weile die Luft aus. Und sobald man mit mehreren Handlungssträngen, Zeitebenen oder Perspektivfiguren arbeitet, wird es natürlich immer schwieriger, alles im Blick zu behalten. Man bleibt leicht stecken oder verfranst sich irgendwo.
Dann ist es von Vorteil, wenn man nicht nur drauflosschreiben kann, sondern auch weiß, was ein Plot ist, woraus er besteht, was er braucht, um vollständig zu sein, und auf welche unterschiedlichen Weisen und nach welchen Kriterien man ihn strukturieren könnte.
Struktur-Prinzipien finden
Gerade, wenn es um nichtlinear erzählte Geschichten geht, sollte man sich ein Prinzip zurechtlegen, nach dem man den Plot strukturiert. Je komplexer oder unkonventioneller eine Geschichte strukturiert ist, desto wichtiger ist es zu wissen, was man tut und wie man dafür sorgt, dass Leser ihm trotzdem (oder gerade deswegen) folgen wollen.
Bei den Lügenvögeln habe ich mich zum ersten Mal konsequent darauf eingelassen, vorher nicht zu wissen, wo mich die Reise hinführt. Ich habe ohne Plot und Plan drauflosgeschrieben. Nachdem ich die erste Fassung mehr oder weniger fertig hatte, habe ich mir einen großen Bogen Papier genommen und versucht, herauszufinden, was ich da eigentlich gemacht hatte und wo sich der Plot versteckt. Das sah dann so aus:
Das heißt, ich habe das Geschriebene erst hinterher strukturiert, den Sinn darin gesucht und verstärkt, und das war toll, es hat Spaß gemacht, weil es mich verblüfft und überrascht hat, was ich in meiner eigenen Geschichte gefunden habe.
Mittlerweile würde ich also sagen: Ob jemand einen Plot braucht, bevor er oder sie losschreiben kann, oder ob jemand den Plot erst beim oder sogar nach dem Schreiben entdeckt, hängt von verschiedenen Sachen ab: Schreibtypus, Gewohnheit, Genre, Überzeugung, …
Stephen King ist zum Beispiel bekannt dafür, dass er das Plotten grundsätzlich verabscheut. Seiner Meinung nach entsteht eine gute Geschichte auf Basis der Frage Was wäre, wenn …? und entwickelt sich von dort aus organisch und von allein weiter. Als Schreiber müsse man einfach nur der Frage folgen.
Das funktioniert meist ganz gut, solange eine Geschichte linear erzählt wird. Sie entwickelt sich chronologisch von A über B nach C. Außerdem entspricht eine solche Erzählweise auch unserer Alltagserfahrung, wir sind darin geübt.
Wenn ich jemandem erzähle, dass ich gestern von der Polizei festgenommen und für eine Terroristin gehalten wurde (Beispiel rein hypothetisch), dann erzähle ich der Reihe nach, chronologisch. Ich fange nicht mit dem Ende an, und ich wechsele auch nicht plötzlich die Perspektive und erzähle aus Sicht der Polizei. Die Hauptfigur in meinem Leben bin schließlich ich.
Das Erzählen von linearen Geschichten lernen wir von klein auf. Wenn Kinder beim Erzählen wild von A nach D, zurück auf B und dann nach Y springen, werden sie ermahnt: Halt, jetzt mal der Reihe nach, ich versteh ja so nix!
Jeder kann linear erzählen, weil wir das ständig tun. Selbst aus Zusammenhanglosem stricken wir im Geiste ständig Plots. Verschwörungstheorien aller Art sind (manchmal ziemlich unterhaltsame) Beispiele dafür.
Was wird strukturiert?
Es sind vor allem zwei Hauptelemente, die wir beim Erzählen strukturieren:
- Wir folgen den Vorgängen, also der Frage: Was passiert? Was folgt daraus? Was passiert? Was folgt daraus?
- Wir folgen der Hauptfigur. (Die Hauptfigur einer Geschichte ist diejenige, die das größte Problem hat und es zu lösen versucht.)
Was am Ende dabei herauskommt, ist natürlich ein Plot. Auch wenn man den vorher nicht geplant und akribisch ausgetüftelt hat, am Ende hat man eine Geschichte mit einem Plot. Ohne Plot wäre es keine Geschichte, sondern nur eine lose Folge von Vorgängen.
Eine lose Folge von Vorgängen wäre zum Beispiel:
- Katja ist 44 und stellt fest, dass sie schwanger ist. Sie denkt über einen Abbruch nach.
- Katjas Mutter lebt auf Fehmarn auf einem alten Pferdehof. Sie wird langsam klapprig und wunderlich.
- Vor 25 Jahren haben Katja und ihre Mutter die 17jährige Krista (Katjas Schwester) für eine Nacht in der Scheune eingesperrt.
- Katjas Schwester Krista kündigt an, dass sie nach 25 Jahren erstmals nach Hause kommt.
- Katjas alte Mutter fängt an, eigenhändig die Scheune abzureißen.
- Es gibt einen großen Sturm, niemand kann die Insel verlassen oder betreten.
- Die Scheune brennt ab.
- Krista ist tot.
- Katja beschließt, das Kind zu bekommen.
Diese Folge von Ereignissen ist allenfalls verbunden durch ‚und dann, und dann, und dann‘. Wir wissen aber nicht, ob und wie diese Ereignisse miteinander zusammenhängen, darum hängt das Ganze in der Luft, wirkt beliebig.
Verbindungen schaffen
Ein Plot entsteht wie gesagt erst dann, wenn die Ereignisse miteinander verknüpft werden, wenn sie also als Ursachen und Wirkungen auseinander folgen. Ich suche mir also Katja als Hauptfigur aus (ich könnte auch Krista oder die Mutter nehmen) und verbinde die Ereignisse miteinander, sodass daraus Vorgänge in einer Geschichte werden (Vorgang = die Geschichte geht voran). Die Elemente, die den kausalen Zusammenhang herstellen, unterstreiche ich:
Katja ist 44 Jahre alt und stellt fest, dass sie schwanger ist. Sie ist sich nicht sicher, dass sie so spät im Leben ein Kind möchte und denkt darum über einen Abbruch nach.
Zugleich hat Katjas Schwester Krista nach 25 Jahren angekündigt, nach Hause zu kommen. Sie ist als Jugendliche weggegangen, weil Katja und ihre Mutter das damals 17jährige Mädchen eine Nacht lang in der Scheune eingesperrt haben und sie beinahe erfroren wäre.
Katjas Mutter lebt seitdem allein auf Fehmarn auf dem alten Pferdehof und ergeht sich in Selbstvorwürfen. Jetzt wird sie langsam klapprig und wunderlich.
Als sie von Kristas Rückkehr erfährt, fängt sie an, eigenhändig die Scheune abzureißen. Katja glaubt, sie tut das, weil nichts die verlorene Tochter an die schreckliche Nacht von damals erinnern soll.
Katja fährt nach Fehmarn, um ihre Mutter zu beschützen. Es gibt einen großen Sturm, und für Wochen kann niemand die Insel über die Landbrücke verlassen oder betreten.
Während des Sturms rücken Mutter und Tochter zusammen, und die Vergangenheit sucht sie heim: Damals, als sie Krista in die Scheune gesperrt haben, war das Mädchen schwanger von einem zwanzig Jahre älteren Mann. Sie wollte mit ihm nach Kanada durchbrennen. Um das zu verhindern, haben Katja und ihre Mutter dafür gesorgt, dass Krista den Flug verpasst und sie darum in die Scheune gesperrt.
Und dann brennt die Scheune ab. In den rauchenden Trümmern werden die Überreste einer Leiche gefunden: Krista.
Jetzt erst setzt sich für Katja die Vergangenheit zu einem vollständigen Bild zusammen: Ihre Mutter hat immer nur erzählt, dass Krista fortgegangen ist. Sie hat erzählt, dass Krista nach Hause kommt. Katja selbst hatte jedoch nie wieder Kontakt zu Krista seit jener Scheunennacht. Krista ist nicht fortgegangen. Sie ist gestorben, und Katjas Mutter hat Katja ihr Leben lang vor diesem Wissen geschützt.
Jetzt jedoch, wo sie selbst auf den Tod zugeht, konnte sie es nicht mehr bei sich behalten und hat darum die Scheune abgebrannt: Auf diese Weise hat sie Krista nach all den Jahren endlich nach Hause geholt. Die Polizei nimmt sich der Sache an.
Als der Sturm endlich nachlässt, ist es für Katja zu spät für einen Schwangerschaftsabbruch. Aber Katja will ihn jetzt auch gar nicht mehr.
So oder ähnlich kann man aus losen Ereignissen einen Plot machen. Der ist noch nicht perfekt, ließe sich aber weiter ausbauen. Vielleicht zu einer modernen Geistergeschichte. Oder eher einem realistischen Familiendrama. Und was würde passieren, wenn man eine der andern beiden Frauen als Hauptfigur wählt? (Mir fällt gerade auf, dass viele der Elemente, die Zusammenhang herstellen, Konjunktionen/Bindewörter sind. Interessant …)
Egal, wie man die Ereignisse verknüpft, wenn man irgendwann nichts mehr umstellen kann, ohne dass die Geschichte kaputtgeht, ist der Plot dicht und rund. Dabei spreche ich immer noch von ganz klassisch strukturierten, linearen Plots. Also von der sog. ‚Heldenreise‘, dem ‚Archeplot‘ oder der ‚Dreiaktstruktur‘.
Wo steckt der Plot in einer nicht-linear erzählten Geschichte?
Eine Geschichte ist dadurch definiert, dass alle Vorgänge logisch auseinander hervogehen und dass sich zwischen Anfang und Ende dabei durch Konflikte und Lösungen etwas Wesentliches verändert. Auch in den meisten nicht-linear erzählten Geschichten versteckt sich genau solcher Plot, der jedoch mehr oder weniger gründlich umgebaut wird. Dabei gibt es ein paar Steigerungsgrade.
Grad 1: Rückblende
Ich bin mir nicht sicher, ob man hier überhaupt schon von nichtlinearem Erzählen sprechen kann, aber hier beginnt es im Prinzip: In vielen Romanen gibt es irgendwo eine Rückblende, in der man etwas über die Vergangenheit der Hauptfigur erfährt. In der Regel ist das ein ganz bestimmter Ausschnitt aus der Vergangenheit, den man als ‚Konfliktvoraussetzung‘ bezeichnet: Eine Hauptfigur hat in einer Geschichte ein Problem zu lösen. Aber irgendeine (meist traumatische) Erfahrung in der Vergangenheit hindert sie daran, das Problem richtig anpacken zu können. Das heißt, bevor dieses Ereignis in der Vergangenheit nicht geheilt ist, wird die Figur ihr Problem nicht lösen können.
Achtet mal darauf, wenn Ihr Filme schaut oder Romane lest. In der Vergangenheit der meisten Hauptfiguren lauert noch irgendein alter Drache.
Grad 2: Parallelhandlungen und verschiedene Zeitebenen
Hierfür nehme man einen oder mehrere ordentliche Plots, schneide sie auseinander und ordne die Teile neu an. In Thrillern wird das oft gemacht, um mehr Spannung zu erzeugen.
Das folgende Beispiel stammt aus dem Thriller Das Kind auf der Treppe. Dort gibt es insgesamt fünf Plots, die ineinandergeschoben und in ihrer Zeitlichen Reihenfolge umsortiert sind. So setzt sich für Leser die Geschichte nach und nach wie ein Mosaik zusammen.
Wenn man einen dieser fünf Plots chronologisch sortiert, sieht das etwa so aus:
a: Leni lernt auf einer Party einen Mann kennen und stürzt sich Hals über Kopf in einen beunruhigend heftigen One-Night-Stand.
b: Leni heiratet den Mann. Er entpuppt sich als krankhaft eifersüchtig und gewalttätig
c: Als es unerträglich wird, plant Leni ihre Flucht.
d: In einem Parkhaus stellt ihr Mann sie. Sie rammt ihn mit dem Wagen und fährt weg, ohne zu wissen, ob er lebt oder tot ist.
e: Lenis Weg führt sie nach Berlin, wo sie bei ihrer Halbschwester unterkriecht und in ständiger Angst lebt: Angst, vielleicht einen Menschen getötet zu haben und dafür belangt zu werden, und Angst, dass ihr Mann noch lebt, sie findet und umbringt.
f: … wie sich das auflöst, verrate ich nicht. 😉
Und so ist der Plot dann im fertigen Roman sortiert:
e: Leni kommt in Berlin an. Ihre Schwester ist gar nicht begeistert, Leni nach Jahren wiederzusehen. (Warum, erfährt man nach und nach aus einem andern Plot.) Leni bekommt das Gästezimmer, komponiert Musik, versucht trotz ihrer Ängste, sich ein neues Leben aufzubauen, schließt Freundschaft mit einer Nachbarin und deren Sohn, hat Affären, versucht zu vergessen.
d, b, c: In diese vorwärts laufende Handlung werden nach und nach erst c, dann a und b aus Lenis Vergangenheit eingefügt. Das Mosaik setzt sich Stück für Stück zusammen.
a: Leni lernt auf einer Party einen Mann kennen und stürzt sich Hals über Kopf in einen beunruhigend heftigen One-Night-Stand.
f: Am Ende führen alle fünf Plots in einem Punkt zusammen und zu einer Auflösung.
Gerade Thriller werden oft mosaikartig strukturiert, weil einem das die Möglichkeit gibt, auf verschiedenste Weisen für Spannung zu sorgen.
Woher weiß man, wie man die Szenen anordnen muss?
Ich weiß nicht, ob sich irgendwer schon mal die Mühe gemacht hat, alle Ordnungsprinzipien aufzulisten, die in Romanen vorkommen, alle möglichen Strukturvarianten, die schon einmal aufgetaucht sind. Es müssen ziemlich viele sein.
Für das Schreiben ist es jedenfalls wichtig, dass man für sich selbst festlegt, nach welchem Prinzip man die Szenen in einer Geschichte sortieren will. Streng chronologisch? Mosaikartig? Oder noch irgendwie anders?
Beim Kind auf der Treppe habe ich mich z.B. an dieses Prinzip gehalten:
In der vorwärts erzählten Gegenwart der Figuren gibt immer wieder Trigger, die Szenen aus der Vergangenheit auslösen. Zum Beispiel: Leni findet beim Komponieren eine vergessene Melodie aus ihrer Kindheit wieder. Diese Melodie ist der Auslöser, um die betreffende Kindheitsszene zu erzählen.
Beim Schreiben habe ich mir also immer wieder die Frage gestellt, wo Auslöser zu finden sind, die etwas aus der Vergangenheit heraufbeschwören. So folgt die Geschichte den Assoziationen der Figuren, der Plot ist also nach psychologischen Gesichtspunkten sortiert.
Es gibt natürlich noch 1000 andere Möglichkeiten. Vielleicht legt sich z.B. in einer Szene eine Frau auf ein Handtuch. Und in der nächsten Szene sind wir in der Fabrik in Kambodscha, in der das Handtuch genäht wurde. Vielleicht folgen wird einen ganzen Roman lang den verschlungenen Wegen eines Handtuchs, und was zuerst wie Willkür wirkt, wird nach und nach zum Plot.
Man kann Plots also nicht nur chronologisch sortieren, sondern auch thematisch, psychologisch, motivisch, assoziativ, nach Farben oder … und man kann natürlich auch mischen. Wichtig ist nur, dass es Zusammenhänge gibt, aus denen sich nach und nach Folgerichtigkeit und Stimmigkeit ergibt.
Grad 3: eine andere Art von Logik
Wir sind es natürlich gewohnt, dass wir aus dem, was eine Geschichte uns bietet, nach und nach Schlüsse ziehen können. Und bei manchen Geschichten besteht ja der Reiz genau darin, herauszufinden, wie letztlich alles zusammenhängt.
Und damit komme ich zurück auf die Plotskizze zu Lügenvögel. Die Skizze habe ich wie gesagt nicht vor dem Scheiben angefertigt, es handelt sich also nicht um einen Plan, sondern sie ist entstanden, nachdem ich die erste Fassung geschrieben hatte.
Ich muss kurz ausholen und erzählen, wie die Geschichte entstanden ist, um zu zeigen, wie dabei ein Plot entstehen konnte: Angefangen hat es mit einem Traum. Darin gab es menschliche Köpfe mit Schwingen statt Ohren, Vogelfüßen und dicken, violetten Zungen. Diese Vögel hatten die Gabe, Träume Wirklichkeit werden zu lassen, und ich wusste, dass sie ein bisschen tricky sind. Sie haben den Leuten nämlich Horrorszenarien zugeflüstert, weil sie die einfach interessanter fanden als Friedefreudeeierkuchen.
Kurz nach diesem Traum ist in der realen Welt Fukushima hochgegangen, und all meine Kindheitsängste sind wieder hochgekommen. (Tschernobyl markiert für mich das Ende einer Kindheit ohne Angst. Damals war ich 12.)
Etwas später habe ich einen Artikel über das spekulative Konzept einer „finalen Kausalität“ in die Finger bekommen. Darin wurde vermutet, dass Ereignisse nicht nur durch Ursachen ausgelöst werden, die in der Vergangenheit liegen, sondern ebenso sehr auch von den Ergebnissen abhängen könnten, die noch in der Zukunft liegen. Eine direkt umgekehrte Kausalität also.
Klick!
Diese drei Elemente mussten zusammenkommen, bevor es in meinem Kopf klick machte und ich einen Zusammenhang herstellte. Plötzlich waren da Verknüpfungsmöglichkeiten, die für einen Plot taugen. Horrorszenarien. Lügenvögel. Finale Kausalität.
Die Hauptfigur hat sich aus diesen drei Elementen ganz von selbst ergeben: ein junges Mädchen, das angesichts der Tschernobyl-Katstrophe vor Angst fast den Verstand verliert und alles geben würde, um Geschehenes ungeschehen zu machen. Aus diesen Elementen könnte man ganz leicht einen klassischen Plot machen, vielleicht mit Zeitreise und Heldentaten, um die Welt zu retten.
Das fand ich aber zu langweilig, ich wollte etwas Seltsames machen, das dem Gefühl von Fremdheit und „nicht mehr aufgehoben sein“ entspricht, das ich angesichts der Tschernobyl-Katastrophe empfunden hatte. Ich wollte eine Welt schreiben, in der es keine Sicherheiten gibt, um noch einmal das zu erspüren, was ich mit 12 gefühlt hatte. Und genau darum habe ich ausprobiert, was ich vorher bei einem größeren Text noch nie gemacht hatte: Ich habe einfach drauflosgeschrieben, habe mich bewusst der Unsicherheit ausgesetzt, ohne Plot zu schreiben und mich treiben zu lassen.
Zuerst ist der Teil entstanden, der jetzt in der Mitte des Buches steht: Marias Jugend, Tschernobyl, Ängste, Drogen, die Lügenvögel erscheinen. Als zweites kam eine Geschichte, die in Marias Gegenwart spielt. Sie leidet unter Hypergrafie. Das heißt, sie muss alles aufschreiben, was ist, zwanghaft. Und zuletzt kam eine Geschichte, die in Marias Zukunft spielt. Dort ist sie eine alte Frau, und Tschernobyl hat es niemals gegeben. Dennoch ist es eine vage postapokalyptische Welt.
Als ich angefangen habe, diese drei Geschichten in Form einer Skizze darzustellen, ist plötzlich alles an seinen Platz gefallen und ich wusste: Die Ereignisse in der Zukunftsgeschichte sind die Ursache für Marias Hypergrafie in der Gegenwartsgeschichte, und Marias Gegenwart wiederum löst die Tschernobyl-Katastrophe in der Vergangenheit aus. Ich musste beim Überarbeiten also lediglich diese Kausalitäten noch deutlicher herausarbeiten.
Wenn Ihr euch jetzt die Skizze nochmal anseht, erkennt Ihr, das Ganze ist ein Kreis geworden. Die dicken Kringel markieren die drei Teile der Geschichte und ihre Verortung in der Zeit. Dazwischen sind Pfeile, die die Richtung von Ursachen und Wirkungen beschreiben. Egal, an welcher Stelle man die Lügenvögel zu lesen beginnt, egal, ob man sich Richtung Zukunft oder Richtung Vergangenheit bewegt, man bewegt man sich immer folgerichtig. Dadurch entstehen paradoxe Wirklichkeiten, die nicht miteinander, aber auch nicht ohneeinander existieren können.
Irgendwann ist der Plot einfach da
Hätte ich diese Skizze nicht angefertigt, wären es einfach drei Geschichten gewesen, die thematisch eher lose miteinander verbunden sind. Im ersten Entwurf hatte ich nur ein vages Gefühl für die Zusammenhänge. Erst dadurch, dass ich mir über Ursachen und Wirkungen Gedanken gemacht und sie dann bei der Überarbeitung bewusst verstärkt habe, ist daraus ein ringförmiger Plot mit einer „finalen Kausalität“ entstanden.
Ich habe also die Ereignisse, die beim Drauflosschreiben von selbst entstanden sind, genommen und nach Regeln, die ich selbst bestimmt habe, aufeinander bezogen. Eigentlich kaum anders, als beim dem ersten Plot-Beispiel hier im Artikel mit Katja, Krista und ihrer wunderlichen Mutter.
Es ist also vielleicht gar nicht so entscheidend, ob man „gern“ plottet oder nicht. Irgendwann hat man einen Plot, und der ist im Idealfall natürlich so zwingend, dass man nichts mehr zufügen oder weglassen kann, ohne dass einem das ganze Ding auseinanderfliegt.
Der Plot allein macht aber noch keine toll erzählte Geschichte aus. Worauf es mindestens ebenso sehr ankommt, ist die Struktur. Wie präsentiere ich den Plot, welchen Prinzipien will ich dabei folgen, was will ich damit erreichen? Spannung, eine bestimmte Stimmung, ein Rätselmosaik, …? Es ist sicher zu einem ganz großen Maße auch die Struktur, die aus einem guten Plot eine fantastisch erzählte Geschichte macht.
Also: Kann man nicht-linear erzählte Geschichten plotten?
Ja, definitiv! Und je komplexer die Erzählstruktur, desto wichtiger ist es sogar, dass man an irgendeinem Punkt einmal gründlich am Plot arbeitet.
Plot 777
Ich habe mir vorgenommen, am Ende von Artikeln zum Schreibhandwerk immer auch einen Vorschlag zum Ausprobieren zu machen. Dieser Vorschlag soll zeigen, dass man wirklich aus allem einen Plot häkeln kann. Googelt dafür einzeln die folgenden sieben (willkürlich ausgewählten) Begriffe:
- Samenkapsel
- Diamant
- Geruchsstopp
- Kastenwagen
- Kirschkuchen
- Inselbegabung
- Kolibri
Klickt bei den Suchergebnissen auf jeweils den siebten Artikel, der euch angezeigt wird.
Nehmt aus dem jeweiligen Artikel jeweils den siebten Satz und schreibt ihn auf.
Die sieben Sätze sind die Grundlage für euren Plot. Stellt Verbindungen her und macht auf etwas einer Seite einen Plot daraus!
Wenn Ihr wollt, könnt Ihr euer Ergebnis an close-reading@karla-schmidt.de schicken. Vielleicht besprechen wir es hier gemeinsam und überlegen uns, wie man den Plot strukturieren könnte. Lest aber vorher bitte unbedingt die Regeln dafür durch!
Qendrim meint
Super Tipps ! Danke dafür.
Karla Schmidt meint
Gern. 🙂
Chris meint
Selten hat mich ein Online-Artikel so sehr gefesselt, wie der hier. Und ich versteh direkt viel mehr vom linearen und nicht-linearen Erzählen. Danke 🙂
Karla Schmidt meint
Freut mich, ebenfalls Danke! 🙂