Meine erste Michael Jackson CD habe ich 2011 auf Wunsch meiner Tochter auf dem Flohmarkt erstanden. Sie hört die Musik rauf und runter, und ich höre zwangsläufig mit. Die meisten Stücke kenne ich, ohne sie je bewusst wahrgenommen zu haben: Hymnen, Balladen, Soul, Funk, Rock, eingängig, tanzbar. Und oft so sentimental, dass es kaum auszuhalten ist. Trotzdem kann ich nicht weghören.
Mit dem Zuhören kommen die Fragen: Wie kommt ein immens reicher Popstar dazu, sich in They don´t care about us mit den Unterdrückten und Entrechteten dieser Welt gemeinzumachen? Was weiß denn der schon von Straßenkämpfen und Polizeigewalt? Und was hat es mit dem Stranger in Moscow auf sich? Ist das ein Relikt jener amerikanischen Urangst vor dem Kommunismus? Warum verurteilt er in Money die Gier nach Geld? Ist er nicht selbst einer von denen, die verdammt viel davon gescheffelt haben? Wieso singt er in Black or White, es sei egal, ob man schwarz oder weiß ist, wenn er selbst zu der Zeit längst weiß wie ein Kühlschrank aussah? Was hat es mit dem wahnsinnig kitschigen Song Childhood auf sich? Soll das etwa eine Rechtfertigung für unentschuldbares Fehlverhalten sein? Ist das alles eiskalte, kommerziell motivierte Heuchelei oder … kompletter Realitätsverlust?
Je öfter ich bewusst zuhöre, desto weniger kann ich die Songtexte und die emotionale Aufrichtigkeit des Gesangs in einen sinnvollen Zusammenhang mit dem bringen, was ich über Michael Jackson zu wissen glaube.
Ich habe nur den Deutungsrahmen der zunehmend aus dem Ruder laufenden Sensationspresse, die Jackson als Profitmaschine, senilen Spinner oder pädophiles Monster beschrieben hat.
Was ich jetzt jedoch wahrnehme, sind Widersprüche, die mich an der kurzen Leine halten: Da gibt es den netten jungen Mann von nebenan, den Macho, den exzentrischen Aristokraten, den asexuellen ebenso wie den höchst sinnlichen Jackson, den Jungen, der sich nicht im Spiegel ansehen kann und den stolzen Swagger. Ich sehe den Zirkusdirektor und den Freak aus der Kuriositätenshow, den humanitären Heiligen und die Medienhure, das ewige Kind, den über die Schmerzgrenze hinaus disziplinierten Erwachsenen, den König der Welt und den tief Verzweifelten. Da ist der versierte Dramaturg der Persona ‘Michael Jackson’, und hier der verklemmteste Intervewpartner, den ein Journalist sich vermutlich vorstellen kann. Ich beargwöhne den kommerziellen Unterhalter und Megastar, fremdele mit dem romantischen Verteidiger der Kindheit, hinterfrage die ‘Schwerter zu Pflugscharen’-Symbolik der Armbinden und Militärjacken, wundere mich über den Kitschliebhaber, der sich von seinen Haushofkünstlern in klassizistischer Manier als König, stolzer Recke, Peter Pan oder Heiligengestalt malen lässt … und gewinne zunehmend den Eindruck, dass ich mich an jemandem abarbeite, der durch und durch ambivalent und ungreifbar ist.
Would the real Michael Jackson please stand forward? (ab Minute 3:50)
Wie kann ich die Gerüchte von den Fakten unterscheiden? Fragt man bei Fans und Kritikern nach, bekommt man höchst widersprüchliche Antworten. Manche Fans sind einfach bloß erotisiert und schwärmen von Rehaugen, schwarzen Locken, goldenen Hosen, großen Händen und anderen herrlichen Körperteilen. Bei anderen schwingt Mitleid mit, ihre Zuneigung scheint sich aus einem Beschützerinstinkt zu speisen. Ihr Michael ist vor allem Opfer – seines Vaters, der Musik-Industrie, der Presse, rechtskonservativer und rassisitscher Kräfte, seiner unausweichlichen Einsamkeit etc. …
Es gibt auch Fans, die Michael Jackson wie einen Heiligen verehren. Für sie ist er der wichtigste Humanist seit Gandhi, Mandela und Martin Luther King Jr., Engel auf Erden und Sündenbock einer verrückt gewordenen Gier- und Korruptionsgesellschaft, ein sanftes, im Herzen ewig kindhaftes Wesen, das nur Gutes denken und tun konnte, das verleumdet, verraten und zu Tode gehetzt wurde.
Von Kritikern wird Jackson meist pathologisiert: Er sei süchtig nach Schönheits-OPs gewesen, er wollte nicht schwarz sein, er habe auf krankhafte Weise Kindheit romantisiert und sei vielleicht sogar ein Kinderschänder gewesen. Andere Kritiker heben eher auf seinen ökonomischen Erfolg ab, für sie ist er Pionier und Wegbereiter einer entfesselten Konsumkultur Ronald-Reaganscher Prägung. Politisches Engagement habe er auf sentimentale Gesten und Kitsch reduziert. Auch Etiketten wie „Rassist“ und „Antisemit“ wurden ihm angeheftet.
Dann wieder ist die Kritik an Michael selbst rassistisch: Wäre der mal besser bei seinem ‘ehrlichen schwarzen Soul’ geblieben, heißt es dann. Doch er sei anmaßend geworden, wollte immer größer und wichtiger sein – und da hat die Natur ihn eben wieder an seinen rechten Platz verwiesen, wie im Märchen vom Fischer und seiner Frau.
Natürlich gibt es noch abseitigere Theorien, nach denen Jackson z.B. entweder von den Illuminati getötet wurde, weil er ‘zu viel wusste’, oder aber noch lebt und seinen Tod als geschickter Medienmanipulator nur inszeniert habe. Was immer jedoch in Umlauf ist – Aufstieg, Kontroverse, Fall – sind eher Glaubensbekenntnisse über eine zunehmend unwirkliche Figur, die auch nach dem Tod ihrer menschlichen Trägermatrix weiter um die Welt geistert. Am Ende war diese Figur für die Öffentlichkeit vor allem ein trauriges Gespenst.
Sie alle reduzieren Michael Jackson jedoch auf nur eine Facette und überzeichnen sie, bis das Bild zur Karikatur gerät. Manche Fans und die meisten Kritiker (zumindest die lautesten) arbeiten so an einer fortwährenden Entmenschlichung ihres Objekts, indem sie es entweder dämonisieren oder zum Erzengel erklären.
Körperlichkeit und Vergeistigung
Am deutlichsten werden die Widersprüche zwischen den unterschiedlichen Deutungen dort, wo es um die leiblichen Fragen geht: Rasse, Sex, Gender. Ist er schwarz oder weiß? Mann oder nicht mehr Mann? Wenn nicht, was ist er dann? Hat er Sex? Wenn ja, mit wem? Warum lässt er sich immer mehr von seinem Gesicht abschneiden? Und geht er eigentlich aufs Klo? Jackson hat die gewohnten Kategorisierungen des Körpers ziemlich gründlich durcheinandergebracht, und das ist verwirrend – für manche faszinierend verwirrend, für andere gefährlich verwirrend. Aber warum? Wie funktionierte das?
Wenn ich mir zum Beispiel auf youtube die Billie-Jean–Performance aus dem Jahr 1997 in München anschaue, bekomme ich auch nach dem x-ten Mal noch Gänsehaut. Warum? Liegt es an der tänzerischen Perfektion, am paradoxen Moonwalk? An dem hitzigen Beat-Boxing, das mehr wie abstrakter Dirty Talk und weniger wie die Imitation eines Schlagzeugs klingt? Liegt es an den expressiven schwarzweißen Kontrasten, den Pantomime-Elementen, dem fanatisierten Publikum? Mir will nicht in den Kopf, dass jemand, der angeblich so labil und unzurechnungsfähig gewesen sein soll, zu solcher Perfektion in der Lage gewesen wäre. Doch Wie kommt ein Halbverrückter zu solch einer massiven, durch und durch körperlichen Intensität?
Wenn jemand eine solch große, anhaltende, oft sogar transformative Wirkung auf sein Publikum hat wie Michael Jackson, kann das nicht nur an technischer Brillanz und Bühnentricks liegen. Es muss etwas damit zu tun haben, was jemand in Menschen anspricht und auslöst. Es muss damit zu tun haben, wer dieser jemand ist.
In einem Interview mit der Chicago Tribune aus dem Jahr 1992 wird Jackson über sein gerade erschienenes Buch Dancing the Dream befragt: „In your book`s essay „Trust,“ you write: „We think separating ourselves from others will protect us, but that doesn`t work. It leaves us feeling alone and unloved.“ Do you feel imprisoned by your fame?
„Yes. Fame can be imprisoning. But the best part of being Michael Jackson is that I know I can interact with millions of people; and in that interaction we exchange something.“
„Which is . . . ?“
„Love. It is exhilarating. It is magic.“ (Chicago Tribune Interview 1992 mit Glenn Plaskin)
L.O.V.E
Love, später in der Schreibweise L.O.V.E., gehörte zu Michaels ewigen Mantras. L.O.V.E. meint allerdings keine romantische oder erotische Liebe, (obwohl Michael Jackson natürlich Beziehungen mit Frauen hatte). Es handelte sich auch nicht um eine leere PR-Floskel, sondern entsprang einer Überzeugung, die aus einem von Kindheit an ausgeprägten Mitgefühl für andere und einem/einer bis zur Selbstaufgabe praktizierten Arbeitsethos/Hingabe resultierte. Michael bezeichnete sich selbst als Perfektionisten und behauptete außerdem von sich selbst, er könne jeden hasserfüllten Menschen läutern, wenn er ihm nur genug Liebe entgegenbrächte. Und er glaube zwar nicht, Jesus zu sein, aber er versuche, ‘wie Jesus zu handeln’ (Interview mit Oprah Winfrey 1993). Solche in einem mehr oder weniger zynischen Businessumfeld unfassbar naiv wirkende Aussagen führten, zumal sie ernst gemeint waren, natürlich zu Spott und Häme. Was aber meinte Jackson mit ‘love’?
Das griechische Wort Agape steht ursprünglich für die Art Liebe, auf die er sich bezieht: Im Neuen Testament vermittelt es eine bedingungslose, befreiende und auf andere zentrierte Liebe, die sich nur erschließt, indem man sie praktiziert. Im Brief an die Epheser schreibt Paulus, dass die Agape Christi die Erkenntnis übertreffe, also wichtiger sei, als der Intellekt (Eph 3, 19 EU). Dadurch, dass man bedingungslos liebt, was ist, wird es demnach möglich, niedere Regungen wie Hass oder Neid in sich selbst und in anderen aufzulösen oder zu ‘erhöhen’. Liebe in diesem Sinne ist keine Währung, die man für Gegenliebe tauscht, sondern eine spirituelle, metaphysische Übung oder Praxis, die Verbindung zwischen Menschen herstellt. Es handelt es sich auch nicht um eine exklusive Liebe zwischen zwei Menschen, sondern um eine gemeinschaftliche und vor allem selbstlose Liebe.
Wenn man sich unter dieser Prämisse anschaut, welches sprachliche, musikalische, tänzerische und visuelle Vokabular Jackson genutzt und nach welchen ästhetischen Regeln er gespielt hat, beginnt man zu begreifen, dass er nicht naiv im Sinne von ‘intellektuell minderbemittelt’ war, sondern tatsächlich (in einem zunehmend nichtreligiösen Sinn) spirituell – ohne dabei jedoch das Leibliche zu verneinen. Das Spirituelle war beim ihm gewissermaßen verleiblicht – was durchaus irritierend ist.
Er war mit seinen Idealen jedoch nicht hinter der Realität zurückgeblieben, sondern er ist ihr eher ein gutes Stück entrückt. Statt die Realität als unabänderlich zu akzeptieren, stellte er sich der Herausforderung, sie zum Besseren zu verändern, und zwar mit allen künstlerischen, menschlichen und monetären Mitteln, die ihm zur Verfügung standen.
In den folgenden Artikeln will ich daher versuchen, mir Michael Jacksons Formensprache genauer anzuschauen und damit sowohl der Person als auch dem Künstler ein Stück näher zu kommen.
P.S.: Anmerkungen, Fragen und Themenwünsche nehme ich gern entgegen – bitte schreibt einfach einen Kommentar. 🙂
Steffi meint
Sehr guter Artikel. Mehr davon!
Karla Schmidt meint
Danke! Der nächste Artikel ist schon da, und der dritte kommt Mitte nächster Woche. 🙂