Diese Kurzgeschichte ist inspiriert von Yin Yuzhen, die es durch unermüdliche Arbeit erreicht hat, dass es in ihrer Heimat, der mongolischen Wüste, heute wieder regnet.
Du sitzt im Schneidersitz in deiner Sandkuhle zwischen Hibiskus und blassem Jasmin, das Gesicht der Sonne zugewandt, die Augen geschlossen. Ich spiele mit deinem weißen Haar. Früher ist es leuchtend schwarz gewesen.
Du lächelst, Bienen treiben von Blüte zu Blüte, eine junge Weide holt Wasser tief aus der Erde, und die Pappeln greifen hoch hinauf in den Himmel. Die Pappeln hast du damals zuerst gepflanzt. Sie wachsen schnell.
„Erzähl mir, wie wir uns kennengelernt haben, du und ich“, murmelst du.
„Aber die Geschichte kennst du doch.“
„Trotzdem. Ein letztes Mal.“
Ich drehe mich ein paar Mal um mich selbst, wirbele etwas Sand auf, bevor ich mich setze. Dann flüstere ich dicht an deinem Ohr:
„Na gut, dann hör mir zu.“
Lange schon hatte ich keine Menschen mehr gesehen, seit Jahrzehnten nicht. Ich habe in den Ästen einer toten Akazie gehockt, als ihr am Horizont erschienen seid mit euren Kühen und Eseln, ich bin um die Mauern der Ruinen gestrichen, als euer Vieh am Brunnen getrunken hat, und ich habe geheult, als ihr das Holz vom Boden aufgelesen habt, um Feuer zu machen.
In der ersten Nacht habe ich gewütet, habe euch unter Sand begraben, habe gebissen, gefaucht. Aber ihr seid nicht weitergezogen.
Ich sah zu, wie ihr gegessen und getrunken habt, bin jammernd von einem Ende eures Lagers zum andern geschlichen, habe heimlich und schnell eure Zelte niedergerissen, die Tiere von euch weggetrieben, eure Kinder in die Irre geführt. Aber ihr seid nicht weitergezogen.
Nicht einmal, als ich in die Glut des Feuers geblasen und das Kleid einer alten Frau in Flammen gesetzt habe, seid ihr weitergezogen. Ihr habt ihre Wunden versorgt und seid geblieben.
An dem Tag, als du und ich uns kennenlernten, habt ihr gerade ein Fest vorbereitet. Ob es wegen der Geburt eines Kindes war oder wegen einer Hochzeit, war mir egal. Nachmittags habt ihr die Esel mit Teppichen, Essen und Geschirr beladen und seid in die Dünen gezogen. Und ich habe euch so sehr gehasst!
Jahrhunderte habe ich allein in der Wüste verbracht, habe Sand von einer Düne zur nächsten getragen, habe Tote, Häuser und Schätze versteckt, um sie nach Jahren zufällig wiederzufinden.
Erinnerst du dich an die große Düne? Sie ragte weit über alle anderen hinaus, mehrere Hundert Meter hoch. Das war allein mein Werk!
In ihrem Schatten habt ihr eure Feuer gemacht, habt gesungen und getanzt. Nur du hast nicht mitgefeiert.
Stattdessen haben deine Füße sich tief in den Sand des Dünenkamms gegraben, mit jedem Schritt hast zu den messerscharfen Grat zertreten, den ich so sorgfältig geschliffen hatte. Je höher du gestiegen bist, desto mehr haben deine Beine gezittert vor Anstrengung, rechts von dir fiel die Düne steil wie eine Wand; ein falscher Schritt, und du wärst gestürzt. Ich war immer direkt hinter dir und habe die Löcher, die deine Schritte rissen, wieder aufgefüllt. Als du endlich am höchsten Punkt angekommen warst, hatte ich deine Spuren bereits verwischt. Alles sollte so sein, als wärst du niemals hier gewesen. Jetzt musste ich dir nur noch einen festen Stoß geben, dich die Steilseite der Düne hinabwerfen, während du, die Augen mit der Hand beschattet, in die andere Richtung schautest. Dann wäre ich dich losgewesen.
Ich weiß nicht, warum ich gezögert habe. Vielleicht, weil ich noch nie zuvor mit jemandem diesen Ausblick geteilt hatte. Oder weil zum ersten Mal jemand die Wüste so sah, wie ich sie sah, wenn ich hoch oben meine Runden drehte: eine See, und die Wellen stehen still.
Oder beinahe still. Denn auch die Wüste hat ihre Gezeiten, und es war meine Aufgabe, die Wogen immer weiter und weiter zu wälzen, bis über den Rand des Horizonts hinaus.
Du bist bei diesem Anblick ganz still geworden, und ich habe mit dir geschwiegen. Nach einer Weile hast du dich niedergesetzt, die Augen geschlossen, hast mich geatmet, wieder und wieder, bis die Sonne dick und rot in die Sandsee tauchte. Als es dunkel wurde, habe dich gefragt, was du hier eigentlich tust.
„Ich nehme Abschied.“ Tränen liefen über dein junges Gesicht. „Morgen werden wir weiterziehen.“
Darum also das Fest, dachte ich. Laut jubeln und tanzen hätte ich sollen vor Freude! Stattdessen erzählte ich dir von meiner großen Traurigkeit.
Was zu deinen Füßen lag, war nicht immer Wüste gewesen. Früher war das Land einmal grün, und mochte ich mittlerweile aus Gewohnheit zufrieden mit Skorpionen und Käfern sein, so gab es doch Momente, in denen ich getötet hätte, um wieder in den Kronen der Bäume zu rauschen, den Vögeln unter die Flügel zu greifen und den Meerkatzen das Fell zu zerzausen.
Es waren Menschen, die all das zerstört hatten. Sie rodeten und brannten und ihre Rinderherden fraßen sich durch das Land wie ein Flächenbrand. Sie hatten das Wasser unter die Erde getrieben und mir nur Staub, Hitze und Kälte gelassen. Nicht einmal Wolken waren geblieben, um mich mit ihnen zu unterhalten. Jeden Winkel habe ich nach Leben abgesucht, in die kleinsten Löcher bin ich gekrochen. Alles war tot, und ihr seid auch wieder verschwunden. Lange Jahre habe ich keinen mehr von euch gesehen. Und als ihr zurückgekommen seid, wollte ich nur eins: euch wegfegen!
Nachdem ich dir mein Leid geklagt hatte, dort auf der großen Düne, warst du mit der Nacht verschmolzen, und über dir waren so viele Sterne wie selbst ich noch nie gesehen hatte. Weit unter uns war das Fest in vollem Gange, auf den Feuern briet Fleisch und die Leute lachten und lebten.
Du aber warst so still, dass ich mir Sorgen zu machen begann. Es war bitterkalt hier oben und du hattest nichts als dein Kleid und die Hose darunter. Also stürzte ich davon, trug den Duft von heißer Milch und Essen zu dir rauf und zupfte dich am Ärmel, damit du dich erinnerst, dass du nicht genügsam bist wie ich, sondern ein Mensch, der Wärme braucht.
Deine Beine waren steif nach dem langen Sitzen. Du hast den Dünenkamm hinab geschaut, den langen Abstieg vor Augen und keine Spur mehr von dir. Und dann hast du dich, einfach so, kopfüber die Steilseite der Düne hinabgeworfen, mit einem lauten, freudigen Schrei, hast dich fünfmal überschlagen, zehnmal, zwanzigmal, bis du unten angekommen bist, atemlos und schwindelig. Dein Lachen leuchtete hell in der Nacht. Von diesem Moment an habe ich dich geliebt.
Als deine Leute am nächsten Morgen weiterzogen, bist du geblieben. Du warst fast noch ein Kind damals, warst allein und hattest nichts als einen Esel, zwei Rinder und ein paar Papiertüten mit Samen darin. Aber du bist geblieben.
Ich erinnere mich, wie du einmal, im dritten oder vierten Jahr, einen anderen Menschen in der Wüste gesehen hast, einen Wanderer mit teuren Schuhen und einem teuren Schlafsack auf dem Rücken. Du bist ihm nachgelaufen, bettelnd und flehend, er möge bleiben. Er hat Reißaus genommen, weil du so verwildert warst und er sich vor dir gefürchtet hat.
Tagelang hast du dir nichts zu essen gekocht, weil du deinen einzigen Topf über einen seiner Fußabdrücke gestülpt hattest, damit ich ihn nicht verwische. Der Abdruck war dein einziger Beweis, dass du nicht allein warst auf der Welt. Leise bin ich unter den Rand des Topfes gekrochen und habe auch diese Spur gelöscht. Ich war eifersüchtig. Und außerdem: Du musstest schließlich essen.
Kurz darauf wurdest du krank. Diesmal war ich es, der bettelte und flehte, bleib, bleib, bitte bleib! Sieh dir an, was du geschaffen hat, weil du all deine Tage damit verbringst, Wasser zu schöpfen, zu säen, zu gießen, zu ernten. Ich habe dir jeden Tag geholfen, ich habe die Samen verbreitet, habe für dich den Duft von Grün weit durch das tote Land getragen und Vögel und Insekten angelockt. Bleib!
Aber du wolltest nicht auf mich hören und bist immer schwächer geworden, immer trauriger, immer weniger. Also bin ich fortgeflogen, um irgendetwas zu finden, das dich aufheitern könnte.
Viele Tage war ich fort, und endlich fand ich es! Ich kam mit einer schweren, grauen Wolkenherde zu dir zurück, trieb sie über deine Beete und Bäume. Sogar einen Bienenstock hatte ich dabei, verbeult und verstaubt von der langen Reise, aber voller Leben. Als du die Bienen sahst, hatte ich dich zurück. Und seitdem breitet das Grün sich immer weiter aus.
Du nickst, lächelst. „Ja, so haben wir uns kennengelernt. Und morgen kommen Leute aus der Stadt, um mich zu diesem Kongress abzuholen“, sagst du schläfrig. „Sie dürfen vor allem nicht noch mehr Pappeln pflanzen, die ziehen das Grundwasser zu schnell ab und verdrängen die andern Baumarten.“
„Du wirst ihnen alles beibringen, was du weißt“, flüstere ich.
„Ich war nicht mehr in der Stadt, seit wir damals in die Wüste gezogen sind, um zu überleben. Und jetzt ist die Wüste fort. Ich weiß nicht einmal, wie viele Jahrzehnte seitdem vergangen sind. Verrückt, oder?“
Im letzten Licht des Nachmittags rollst du dich zum Schlafen in deiner Sandkuhle zusammen und ich decke dich mit Sommerluft zu. Bevor ich hinaufsteige, streiche ich dir ein allerletztes Mal durchs Haar.
„Mach’s gut“, sage ich leise. „Leb wohl.“
Dann blicke ich auf das Grün, das weit über den Rand des Horizonts reicht, spiele eine Weile mit den Flughörnchen und Pandabären in den Bäumen, zupfe ein paar Blumen die Blütenblätter aus, um von ihnen zu erfahren, liebst du mich, liebst du mich nicht, und brause weiter, dorthin, wo das Grün endet und die stetig schrumpfende Wüste beginnt. Ich will kräftig in die Windräder blasen, die dort schon auf mich warten.
Und wenn ich morgen nach Hause komme, wirst du endlich doch weitergezogen sein.
Frohmut Schäfer-Auerswald meint
Diese Geschichte ist wundervoll erzählt. Sie trägt den Leser mit in diese Welt, als säße man selbst auf einer der Windböhen. Vielen lieben dank! Sehr inspirierend.
Ich bin ganz am Anfang und möchte auch so lebendig schreiben lernen.
Karla Schmidt meint
Danke für den schönen Kommentar – das freut mich sehr. 🙂
Wolfram Engel meint
Sehr geehrte Frau Schmidt,
Ihre bezaubernd wundervoll geschriebene Geschichte hat mich gefunden!
Vor wenigen Minuten habe ich das Ende des Studienheftes RO18 – Stil II – erreicht und anschließend noch ein wenig in Sachen ´Stilfragen´ geschmökert. Dabei bin ich auf Ihre Seite und Ihre Geschichte gestoßen.
Der Erzähler (ich belasse es beim Maskulinum 🙂 ) hat mich in seinen Bann gezogen und mich neugierig auf´s Weiterlesen werden lassen.
Ihre Geschichte ist ein lebendiges Beispiel für die im “Stil II -Studienheft” mehr oder weniger theoretisch genannten stilistischen Ausführungen.
Herzlichen Dank
Wolfram Engel
Karla Schmidt meint
Hallo Herr Engel,
wie schön, Sie hier zu sehen – und lieben Dank für Ihre Worte! 🙂
Viele Grüße, Karla Schmidt
Frohmut Schäfer - Auerswald meint
Liebe Karla Schmidt,
Zum zweiten Mal lese ich Ihre Geschichte, dieses Mal, angeregt aus GRKU12.
Sie hat mich sofort in die fremdartige ferne Landschaft und Kultur getragen, mit einer für sich ganz eigenen Atmosphäre. Wie eine sanfte Berührung, leicht getränkt mit Traurigkeit und Liebe!
Vielen Dank dafür!
Herzliche Grüße Frohmut Schäfer – Auerswald
Karla Schmidt meint
Lieber Frohmut Schäfer,
es freut mich sehr, das zu lesen. Vielen Dank für die nette Rückmeldung! 🙂
Viele Grüße, Karla Schmidt
Sandro Cerny meint
Liebe Karla Schmidt!
Ich durfte soeben Ihre Geschichte lesen. Eine Geschichte mit so viel Liebe, Sehnsucht, Wehmut und Leidenschaft. Eine Geschichte, die auf mein Herz drückt, mir das Atmen erschwert und mir Tränen in die Augen drückt. Ich konnte jedoch nicht von ihr lassen!
Erkenne ich mich darin wieder, meine unerfüllte Hoffnung an das Leben? Meine seelische Einsamkeit? Sie zeigen mir meinen geheimen Wunsch, ebendiese tiefe Liebe und Wertschätzung selbst zu erfahren und auch geben zu können. Ich fühle mich zu beiden „Figuren“ Ihrer Geschichte hingezogen und würde so gerne in deren Mitte Platz nehmen! Bin ich verrückt? Ja, vielleicht ein bisschen, ich weiß!
Ich glaube Ihnen jedes Wort der Geschichte. Ich fühle die zärtliche Berührung, diese Intimität. Sie haben mich emotional gerade so sehr berührt, unbeschreiblich! Ich kann Ihnen dafür nur danken … Sie wissen gar nicht, was Sie gerade mit mir angestellt haben! Wirklich großes Kompliment für Ihre Worte, für diese Landschaft der Gefühle, für diese fühlbare Liebe. Danke!
Karla Schmidt meint
Lieber Sandro Cerny, Danke für Ihre Begeisterung und dass Sie sie mitteilen! Es ist wirklich schön zu erfahren, dass etwas, das man geschrieben hat, so sehr berührt. 🙂
Marion Sihr meint
So eine berührende Geschichte! Man kann mit dem “Wind” richtig mitfühlen. Zuerst seine Verzweiflung und dann sein Glück.
Danke.
(Bin durch den GRKU12 auf diese Geschichte gestossen).
Ob ich das auch mal schaffe, so lebendig zu schreiben?
Karla Schmidt meint
Liebe Marion Sihr,
Danke, ich freue mich immer, wenn ich mit einem Text berühren kann.
Ich glaube, das Lebendige entsteht, wenn man einerseits die Geschichte beim Schreiben intensiv durchlebt und sich zugleich selbst dabei beobachten kann, wie man sie schreibt. Zumindest ist das bei mir oft der Fall.
Und ich glaube, man lernt das wirklich nur durch schreiben, schreiben, schreiben. Und dann reflektieren, was man handwerklich gemacht hat.
Und wieder weiter schreiben. 🙂