In der Zeit zwischen Thriller und BAD verteilte Jackson als Inspirationsquelle für die PR-Arbeit eine Autobiographie des amerikanischen Zirkuspioniers P.T. Barnum an seine Mitarbeiter.
Barnum – Spitzname ‚König Humbug‘ – gilt als der Unternehmer im Showgeschäft, der als erster Medienereignisse kreierte, um seine Popularität zu steigern. Jackson hat sich in mancherlei Hinsicht in Barnum wiedergefunden und seine Strategien adaptiert.
Durch seine Biografie, Mitte des 19. Jahrhunderts ein Bestseller, hatte Barnum sich einen Ruf als Schlitzohr erworben. Er galt als jemand, der das Publikum gern aufs Glatteis führt, mit seiner Fantasie spielt, um ihm ein erstaunliches, erschreckendes, aber letztlich harmloses und bildendes Vergnügen zu bereiten.
Er schrieb, dass es ihm durchaus darum ging, eine Menge Geld mit seinen Attraktionen zu verdienen. Zugleich sah er sich als Philanthrop, der viel von diesem Geld in Wohltätigkeit und Bildungseinrichtungen investierte und sich gegen Sklaverei engagierte. Seinen Landsitz, den er sich, dem Zeitgeschmack entsprechend, romantisierend-orientalisch einrichten ließ, nannte er Iranistan. (Michael kaufte in seiner Barnum-Phase die Sycamore Valley Ranch und nannte sie Neverland.)
Später in seinem Leben wollte Barnum seinen Ruf aufbessern, was jedoch misslang. Dreißig Jahre lang, schreibt er, habe ich mich abgerackert, um Gutes zu tun, aber dabei dummerweise immer meine schlechtesten Seiten offenbart, bis die halbe Christenheit glauben musste, ich trüge Hörner und Hufe. (P.T. Barnum: König Humbug, S.221)
Nur offene Fragen sind spannend
Die Erkenntnis, dass er als Freak eingestuft wurde, traf sich entweder mit oder führte zu Michael Jacksons Faszination für die Lebensgeschichte Barnums, der unter anderem mit sogenannten Freakshows für Aufsehen sorgte.
Bei den in solchen Shows ausgestellten Attraktionen handelte es sich zum Teil um körperlich behinderte oder kranke Menschen – wie etwa den in England ausgestellten Elefanten-Menschen John Merrick – und teilweise um mythologische Figuren wie Riesen, Zwerge oder Zwitterwesen, die mit Hilfe von Tricks in Szene gesetzt wurden.
Barnum stellte beispielsweise eine ‚Seejungfrau‘ aus, bei der der hintere Teil eines Thunfischskeletts mit dem Torso eines Schimpansen verbunden wurde, um die Illusion zu erzeugen.
Und wie schon erwähnt, stellten die Freakshows jener Zeit auch ‚weiße Neger‘ aus – Schwarze, die unter Vitiligo litten. Sie waren beim Publikum beliebt und wurden gleichermaßen mit Grauen und Faszination begafft. Vor allem die Frage nach der sexuellen Potenz solcher schwarzweißen Zwittergestalten schien die Gemüter zu erregen.
Wesentlich für die Wirkung solcher Shows war die Frage: Was ist es?
Statt zu behaupten, es ist ein XY, stellte Barnum die offene Frage ganz bewusst in den Vordergrund.
Erstens konnte er auf diese Weise Betrugsvorwürfen entgehen. Zweitens erzeugt die Frage was ist es? weitaus mehr Spannung, als eine Festlegung darauf, was es ist. Ähnlich wirkungsvolle Fragen wären: Ist das echt? Hat es Sex? Ist es gefährlich?
Weil diese Fragen nicht abschließend beantwortet werden können, wird die Spannung aufrechterhalten, und Jackson machte sich genau diese Methode zunutze, wenn er sich – als sein eigener Zirkusdirektor – als zunehmend rätselhaftes Wesen inszenierte.
Eindeutig Michael
Das Album BAD und Michaels zugehörige neue Persona wirkten insgesamt gewagter als Thriller. Was er in diesen Jahren inszenierte, war nicht, wie vielfach konstatiert, eine vage als rassistisch wahrgenommene Whiteness. Diese Annahme ist letztlich eine Projektion, und der Rassismus steckt hier nicht im Objekt, sondern im Betrachter.
Was Jackson präsentierte, war vor allem Unverwechselbarkeit, Einzigartigkeit.
Er sah 1987/1988 bereits nicht mehr wie ein ‘typischer Schwarzer’ aus mit der hell geschminkten Haut und der schmalen Nase. Er sah mit den langen Jheri-Curls aber auch nicht wie ein ‘typischer Weißer’ aus. Er hob mit Make Up und hoher Sprechstimme ‚feminine‘ oder eigentlich eher ‚kindhafte‘ Züge hervor, trug zugleich Leder und Nieten, präsentierte ein männlich-kantiges Kinn mit neuem Grübchen in der Mitte, betonte die Hüfte mit breiten Gürteln und den Schritt mit eindeutigen Gesten.
Die neue Zusammenstellung von Race- und Gendermerkmalen sah von Anfang an weder tuntig noch tough, sondern ausschließlich wie Michael Jackson aus.
Die neue Optik wurde diskutiert und verlacht, erstmals hörte man Vorwürfe, er wolle nicht schwarz sein, und gerade die Mischung aus Androgynität und Mackerhaftigkeit warf die Frage nach seiner Sexualität auf. Man wollte wissen: Ist er trans, straight oder homo? Und ist das echt, wenn er sich neuerdings ständig in den Schritt packt – oder alles bloß Show?
Wie wirkungsvoll das war, wird deutlich, wenn der 1989 bereits 62jährige legendäre Performer Sammy Davis Jr. Michaels Griff in den Schritt (sehr respektvoll) parodiert und dann meint, er habe sein Leben lang etwas falsch gemacht.
Kleine Kunstgriffe
Wie Barnum ging es Jackson darum, die Imagination des Publikums zu steuern. Beispielsweise übernahm er von Barnum die Methode, ‚geheim‘ zu reisen, dann aber doch immer durchsickern zu lassen, in welchem Hotel er residierte, sodass sich die unvermeidlichen Fantrauben davor sammeln konnten. So wurde die banale Tatsache, dass er nun mal irgendwo schlafen und essen musste, jedes Mal zu einem ein Event, das Aufmerksamkeit auf ihn lenkte: Seht her, ich werde gefeiert, umlagert, begehrt und verehrt. Michael-Jackson-Fieber, wo immer er auftauchte.
Auch im Hinblick auf Pressearbeit lernte Jackson von Barnum. Das New Yorker ‚Seejungfrauen-Fieber‘ hat Barnum auf folgende Weise hervorgerufen:
Er hat in der Zeitung eine Meldung lanciert, in der ein ‚Dr. Griffin‘ schrieb, er werde von einer Expedition ein Exemplar mitbringen. Je mehr ‚Dr. Griffins‘ Schiff sich New York näherte, desto detaillierter wurden seine Stories, die in der Zeitung erschienen.
Ich gebe offen zu, dass alle drei Berichte von mir selbst geschrieben und an Freunde mit der Weisung geschickt worden waren, sie an bestimmten Tagen auf die Post zu geben. Diese Vorsicht und die Poststempel ließen keinen Verdacht einer Fopperei aufkommen, und in dieser Weise trugen die New Yorker Blätter unbewusst dazu bei, die Öffentlichkeit auf die Seejungfrau aufmerksam zu machen. […] Das Seejungfrauenfieber wuchs sich allmählich zu einer Epidemie aus. […] Als ich glaubte, dass die Neugier des Publikums auf die Seejungfrau groß genug geworden sei, ließ ich durch einen Mittelsmann die Konzerthalle auf dem Broadway für die Schaustellung mieten. (König Humbug S.149f.)
Und schließlich stimmte Dr. Griffin ‚widerstrebend‘ zu, vorzuzeigen, was er ‚mitgebracht‘ hatte.
Barnum beschreibt mit Freude am gelungenen Streich, wie er Presse und Publikum zu manipulieren verstand. Wegen solcher Streiche legte er sich selbst den Beinamen ‚König Humbug‘ zu und sagte, dass sie nur ein Spaß waren neben all den herrlichen, belehrenden, zweifellos wirklichen Dingen (ebd. S.144), die er ebenfalls gezeigt habe.
Erwachsene in Kinderkörpern
Eine andere von Barnums Attraktionen war Tom Thumb, ein kleinwüchsiger Junge, den er in eine bunte Uniform steckte und als General ausgab. Tom Thumb war fünf Jahre alt, als er ihn engagierte, er war so groß wie ein Einjähriger und er wurde für elf Jahre ausgegeben, um ein ausreichend großes Interesse an ihm zu wecken.
Tom Thumb hatte es Michael besonders angetan. Er selbst war als Kind für jünger ausgegeben worden: Laut Motown war er erst zehn Jahre alt, als die Jackson 5 ihren ersten Hit landeten, während er tatsächlich schon zwölf war. Für den tanzenden und singenden, ach so süßen und aus heutiger Sicht unangenehm sexualisierten Kinderstar Shirley Temple, ebenfalls eine von Michaels Identifikationsfiguren, galt dasselbe: Sie wurde für jünger ausgegeben als sie war. Es war im Showgeschäft für die Imagebildung als ‚Wunderkind‘ einfach wichtig, als möglichst jung zu gelten.
Entscheidender für das Gefühl der Gemeinsamkeit war aber vielleicht, wie erwachsen solche Kinder bereits in frühen Jahren sein mussten. Smokey Robinson hielt nach eigener Aussage das Kind Michael Jackson für einen ‚vierzigjährigen Midget‘, für einen reifen Mann in einem Kinderkörper, weil Michael für sein Alter zu erwachsen wirkte. Auch das Publikum spekulierte damals bereits in diese Richtung – Michael war also schon als Kind fortwährend Spekulationen über seine ‚wahre‘ Identität ausgesetzt gewesen.
Mit Freaks und Tieren unterwegs
Anfang der 80er traf man Michael oft in Begleitung eines kleinwüchsigen Kinderstars namens Emanuel Lewis, mit dem er sich angefreundet hatte. Als Michael mit ihm aufzutreten begann, machte das auf die strukturelle Ähnlichkeit bei der Inszenierung von kuriosen Kindern aufmerksam – und zugleich hatte es natürlich genau den Showeffekt, den es nun einmal hat.
In der BAD-Ära legte Michael sich dann den Schimpansen Bubbles zu. Bubbles ging zur Toilette, steckte in Kinderkleidern, wurde mit dem teuren Duft Poison parfümiert, trank Kaffee und wurde zu jeder Pressekonferenz, Preisverleihung oder Premiere mitgenommen. Bubbles the Chimp bares all about Michael, hieß es in einer Schlagzeile, die vermutlich Jacksons Management lanciert hatte.
Michael behandelte die Jahrmarktsattraktion ‚Affe in Kleidern‘ wie seinesgleichen – und hatte offensichtlich Spaß daran. Er ließ sich auch mit einem Buch über die ‚Sprache der Tiere‘ fotografieren, hielt das Buch aber falsch herum, als sei er selbst der Schimpanse, der nicht lesen konnte. Solche spaßhaften Momente wurden jedoch selten als Spaß aufgefasst. Stattdessen wurde viel über Jacksons mentalen Zustand spekuliert.
Die fast schon zu deutliche Aussage wurde nicht wahrgenommen: Der Affe und ich, wir unterscheiden uns nicht. Für euch bin ich, genau wie dieser Affe, bloß eine amüsante Kuriosität.
Später, auf dem Dangerous-Album-Cover (1991), wird Jackson noch expliziter: Dort sind sowohl Barnum als auch Tom Thumb abgebildet, und Jackson besuchte in dieser Zeit etliche Kranken- und Waisenhäuser in Begleitung eines professionellen Spaßmachers: Ein Kleinwüchsiger in einer Nachbildung der Tom-Thumb-Uniform. Das Fließen der Identitäten ist bemerkenswert verwirrend: Michael, der früher als Erwachsener in einem Kinderkörper wahrgenommen wurde, reiste jetzt mit einem echten Erwachsenen im Kinderkörper, während er selbst in einem Erwachsenenkörper lebte und versuchte, sich einen kindhaften Geist zu bewahren.
Der Versuch der Metakommunikation, der das Publikum auf seine eigene Wahrnehmungen und Urteile zurückzuwerfen versuchte, misslang weitgehend, auch später in seiner Karriere, als es für Michael Jackson durchaus ernster wurde.
Vor allem dürfte das daran gelegen haben, dass man seine Musik vornehmlich als ‘seichten Pop’ einstufte – unterhaltsam, aber nicht meht – und dass man ihn folglich nicht als Künstler – oder wenigstens als intelligenten Menschen – ernstnahm, sondern ihn schon früh als zunehmend exzentrischen, emotional zurückgebliebenen Sing- und Tanzakrobaten abzutun begann. Der Name Wacko Jacko, den Michael hasste, haftete ihm bereits seit 1983 an, als das Londoner Boulevard-Magazin The Sun ihm diesen Titel verpasste.
Alternative Fakten
Jacksons Spiel mit den Medien war bereits eine Reaktion auf die Klatschpresse. Was die in dieser Zeit zu vermelden wusste, kam zunächst zu einem nicht unerheblichem Anteil aus Jacksons eigenem Lager. Obwohl viele Meldungen absurd genug waren, um sie als Gags und Zerrspiegel erkennen zu können, wurden sie doch gierig als ‚Realität‘ angenommen. Sie entfalteten eine Eigendynamik, die so kaum beabsichtigt gewesen sein kann. Als aus Jacksons Lager keine eigens kreierten Meldungen mehr kamen, fing die Presse eben an, das Spiel in eigener Regie weiter zu spielen. Es wurden zunehmen weniger spaßhafte und mehr boshafte Meldungen zu erfunden und zweifelhafte ‚Quellen‘ für absonderlichste ‚Informationen‘ bezahlt.
Die Gier, mit der derzeit ‚alternative Fakten‘ und ‚Fakenews‘ als Realität aufgesogen und verbreitet werden, entspringt vermutlich demselben Lechzen nach Abspaltung und Projektion, nach einfachen Erklärungen, Diffamierung und natürlich nach Sensation.
Im Glassarg
Bezogen auf Michael Jackson gab es damals zunächst eher harmlose Berichte über Michaels Space Age Diet, Albernheiten wie Michael frozen for fifty Years oder Jackson’s third Eye starts sunglasses fad oder spannendere Fragen, ob Michael wirklich um die Hand seiner 25 Jahre älteren, mütterlichen Freundin Elizabeth Taylor angehalten hatte.
Manche Gerüchte entstanden im Zusammenhang mit realen Ereignissen, zum Beispiel: Michael sleeps in Hyperbaric Chamber. Im Jahr 1984, während der Dreharbeiten zu einem Pepsi-Werbespot, gab es einen Unfall mit der Pyrotechnik und Michael erlitt Verbrennungen zweiten und dritten Grades an der Kopfhaut.
Die Wiederherstellung brauchte mehrere Operationen und eine schmerzhafte Dehnungsprozedur, bei der ein mit Salzlösung gefüllter Ballon unter die Kopfhaut implantiert wurde. Nachdem die gesunde Haut entsprechend erweitert war, konnte man den größeren Teil der zerstörten Haut entfernen. Dennoch blieb am Oberkopf eine kahle Stelle zurück und die zerstörten Nerven feuerten bis zu Michaels Lebensende phasenweise heftige Schmerzsalven. Nach dem Pepsi-Unfall begann für Michael Jackson ein lebenslanges Tauziehen gegen die Abhängigkeit von Schmerzmitteln, die in Phasen beruflicher und emotionaler Belastung zu einer ausgewachsenen Sucht wurde. (Dazu in einem späteren Artikel mehr)
Michael hatte sich im Zuge des Unfalls mit den Möglichkeiten der Behandlung von Brandverletzungen beschäftigt und hatte eine Druckkammer für das neu gegründete Michael Jackson Burn Center angeschafft, einer von ihm mitfinanzierten Krankenhausabteilung, in der Brandopfer behandelt wurden. In einer solchen Druckkammer können unter anderem schlecht oder nicht heilende Wunden behandelt werden.
Die Gelegenheit wurde genutzt, um Michael in der futuristisch wirkenden Glasröhre fotografieren zu lassen und eine alberne Meldung zu lancieren. Das Gerücht, Jackson schlafe wie Schneewittchen in solch einer Röhre (zusammen mit seinem Affen! Was treiben die wohl da drin?!), um ewig jung zu bleiben, hielt sich hartnäckig.
Elefantenmensch
Eine weiteres hartnäckiges Gerücht lautete: Michael to buy elephant man´s bones.
Michael hatte David Lynchs Film The Elephant Man über John Merricks Lebensgeschichte gesehen und war nachhaltig fasziniert. Im Rahmen seiner eigenen Freak-Recherchen hat er sich tatsächlich für Merricks Knochen interessiert und sie sich in London auch mehrfach angesehen. Möglicherweise hat er sie sogar kaufen wollen, passen würde es zu ihm.
Diese Idee stieß in der Öffentlichkeit jedoch auf Befremden und Empörung. Ob die ursprüngliche Behauptung aus Jacksons Lager kam oder nicht, sie stellte jedenfalls eine direkte Verbindung zwischen dem berühmtesten Freak der Geschichte und Michaels eigenem Status als öffentlicher Attraktion her.
Warum wurde es als fast schon pervers angesehen, dass Michael sich offenbar mit dem Elefantenmenschen identifizierte?
Der Elefantenmensch hat sich seine Krankheit nicht ausgesucht, sein Schicksal ist tragisch. Michael Jackson hingegen, so glaubte man zu wissen, hatte ganz allein zu verantworten, was aus ihm wurde. Die Identifikation mit John Merrick könnte also gut als ungebührliches Jammern aufgefasst worden sein, nach dem Mott: Der Kerl hat doch wirklich alles, was man sich wünschen kann, oder? Er braucht nicht auch noch die Knochen eines traurigen Monsters. Zudem: Der Elefantenmensch ist öffentliches kulturelles Eigentum. Es steht einem reichen Spinner nicht zu, ihn für sich zu reklamieren dem öffentlichen Blick zu entziehen.
Michael thematisierte seine Verbindung mit dem Elephantman im Short-Film zu Leave me alone. Dort gibt es eine Sequenz, in der er, eine Charlie-Chaplin-Melone auf dem Kopf und eine Sträflingskugel am Fuß, zusammen mit den Knochen des Elefantenmenschen tanzt – zwei Gefangene des Showgeschäfts gemeinsam auf derselben Bühne. Dieses Statement ist so simpel, dass es fast unerklärlich erscheint, warum in den 80er Jahren nicht verstanden wurde, dass Jackson seine Rolle in der Öffentlichkeit kommentierte.
Stattdessen waren psychologisierende Interpretationen in Umlauf, die sich ungefähr so zusammenfassen lassen: Michael Jackson identifiziert sich mit dem Elefantenmenschen, weil er sich für ebenso entstellt hält wie der es war. Er leidet unter einer Störung, die ihn zwingt, sich seine eingebildet elefantöse Nase immer kleiner schneiden zu lassen. Der Mann verstümmelt sich, weil er sich selbst für einen Elefantenmenschen hält!
Leave me alone
Jackson mag die Hoffnung gehegt haben, dass Kritiker seine metakommunikative Selbstinszenierung begreifen würden. Letztlich schoss seine PR-Abteilung jedoch übers Ziel hinaus und Michael war unzufrieden. Der Kurzfilm zu Leave me alone kann in diesem Kontext als Selbsterklärung gelten. Eigentlich machte er es dem Publikum damit leicht, zu begreifen, wie die Attraktion Michael Jackson kreiert worden war. Der Film ist eine auch heute noch frisch wirkende Kombination aus Animation, Modellen und Realfilmelementen.
Im Vergnügungspark
Am Anfang werden die spektakulärsten Schlagzeilen als Bestandteil des Vergnügungsparks, den Michael bewohnt, vorgeführt. Zum einem harten Backbeat werden sie dem Publikum eine nach der andern auf die Stufen eines Trailers, den Michael bewohnt, geknallt. Michael geht daraufhin buchstäblich durch die Decke.
Dann fährt er zusammen mit Bubbles in einer Fahrgeschäftsgondel in die Katakomben des Vergnügungsparks und wird dabei von Hunden in Anzügen (aka Paparazzi) herumgehetzt. Michael ist den hilflos hechelnden Hunden natürlich immer eine Nasenlänge voraus, und er ist mit Verve und Freude anders und eben nicht normal. Trotz bedrohlich klickender Kameras, schnappender Zähne und sich materialisierender Publikumsfantasien geht es bunt und lustig zu in diesem Reich.
Die Lyrics des Songs sind, wie oft bei Jackson, mehrdeutig. An der Textoberfläche haben wir es mit jemandem zu tun, der mit seiner Freundin Schluss macht und sich verbittet, dass sie ihm weiter nachläuft. Sie hat ihn verletzt, aber das ist jetzt vorbei.
Wenn man in Jacksons Privatleben zu dieser Zeit schaut, dann ist Leave me alone eher eine klare Botschaft an seinen Vater: Ich liebe dich – aber lass mich endlich in Ruhe, hör auf, mich um Geld anzupumpen und verschwinde endlich aus meinem Leben! Gerade um BAD herum distanzierte Jackson sich mit oft deutlicher Bitterkeit von seinem Vater.
Der Text beschwört zudem auch die Power heraus, die Michael für sich in Anspruch nimmt – zu erreichen, was immer er sich vornimmt, allen Hindernissen zum Trotz:
Ain‘t no mountain that I can‘t climb baby,
all is going my way.
Cause there‘s a time when you‘re right,
and you know you must fight. (Who‘s laughing baby, don‘t you know?)
And there‘s the choice that we make,
and this choice you will take. (Who‘s laughin‘ baby?)
Just leave me alone (mehrmals)
Just stop doggin‘ me around.
Gulliver
Im Video selbst, also auf der visuellen Ebene, geht es weder um das Verhältnis zu einer Frau noch zu seinem Vater, sondern um ein Thema, das in Jacksons Arbeit überall mitschwingt: Das Verhältnis zwischen Attraktion und Publikum.
Hört auf, mich zu jagen, heißt es, und: Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Und zu dieser Zeit in seinem Leben sah es für Michael Jackson tatsächlich noch so aus, als hätte er das letzte Wort.
Wenn Jackson durch die Katakomben fährt und am Ende wieder herauskommt, erkennen wir nach und nach, auf was für einer Basis der Vergnügungspark gebaut ist: Es ist eine Gulliver-Version von Jackson in Zirkusdirektor-Uniform, ein Riese, um dessen Leib sich eine Achterbahn schlingt. Hunde versuchen, ihn mit Stricken und Holzpflöcken an den Boden zu nageln. Und die Katakomben, in denen wir eben noch gewesen sind, waren Michaels eigenes Hirn. Der kleine, flinke Michael in seiner Gondel hat nach wie vor Spaß und verlacht seine Verfolger.
Der Gulliver-Jackson hingegen – der echte, in dessen Hirn der fröhliche Showman-Jackson mit seinem Affen herumflitzt – empfindet anders. Gulliver-Jackson reißt sich los, zerbricht die Achterbahn, die sich um seinen Arm und Torso windet und richtet sich auf.
Das letzte Bild des Films: Er steht da in seiner Uniform. Der Vergnügungspark zu seinen Füßen liegt in Trümmern. Da ist auch kein triumphierendes Lachen mehr, sondern ein ernster, in die Ferne gerichteter Blick. Das Bild ist natürlich nicht zufällig gewählt.
Bei Jonathan Swifts vierteiligem Roman Gullivers Reisen von 1726 handelt es sich eigentlich nicht um einen (später zusammengekürzten) Abenteuerroman für Kinder, sondern um eine Gesellschaftssatire, in der Swift seiner Verbitterung über damalige Missstände und die Relativität menschlicher Werte Ausdruck verleiht. Diese Relativität bekam auch Michael Jackson zu spüren, und auch er sah sich als Riesen, den man festzunageln und zu kontrollieren versuchte.
Im Schlussbild von Leave me alone klingt zum ersten Mal sehr stark das Gefühl von Einsamkeit und Getrenntsein vom Rest der Welt an, das später immer häufiger in seinen Songs aufscheint, besonders ab 1995 mit dem HIStory-Album.
Price of fame
Gegenüber dem Choreographen James Paterson hat Jackson einmal geäußert, er würde alles dafür geben, einfach zu einer Party gehen zu können, am Rand zu stehen und zu schauen, wie ganz normale Leute ein ganz normales Leben führen (vgl. Spike Lee: BAD25 – Film-Dokumentation aus dem Jahr 2012). Und der ehemalige Kinderstar Corey Feldman berichtet in seiner Biografie, wie er einmal mit einem bis zur Unkenntlichkeit verkleideten Michael auf einer Party gewesen ist und ihn auffordere, er solle doch tanzen. Michael erwiderte, dass das vollkommen unmöglich sei, weil er sich damit verraten würde und dann die Hölle los sei (vgl. Corey Feldman: Coreyography).
Bereits als Michael zwölf Jahre alt war, war die Option, einfach unbeschwert feiern zu gehen, für ihn in weite Ferne gerückt. Wo immer er auftauchte, war er die Attraktion, und wenn er zu einer Party kam, war das Erste, worum man ihn bat: seine Show abzuziehen.
Zwei bis nach seinem Tod unveröffentlichte Songs aus der BAD-Ära bringen deutlich die unerfüllbare Sehnsucht nach Normalität zum Ausdruck: Free und Price of Fame (beide im BAD25-Boxset). Price of Fame war für das BAD-Album vorgesehen gewesen, wurde aber zugunsten des weniger jammervollen und optimistisch-aggressiveren Leave me alone weggelassen. Die Lyrics sind bezeichnend:
[…] I want a face no one can recognize, in disguise
Someone called out my name
They thought of taking pictures, autographs, then they grab
My joy has turned to pain
[…] I feel the pressure setting in, I’m living just to win
I’m down here in my pain, don’t you feel it?
It’s the price of fame, you pay the price of fame
[…] So don’t you ever complain!
I’m on the cover of the magazine, what a scene
They know my every do’s
“Just sign your name, the dotted line, you’ll be fine”
That always bothers me
Get in your car, you wanna take a ride, look behind
Someone is following you
You try to get away, you turn real fast, but too bad
They know your every move […]
I feel their envious looks at me
Their mistaken jealousy
Then stand here in my shoes
And get a taste of my blues!
Das Doppelgesicht des Tricksters
Die Forderung Leave me alone wurde vermutlich als doppelzüngig wahrgenommen. Wenn Jackson wirklich in Ruhe gelassen werden wollte, hätte es nicht genügt, die Füße stillzuhalten statt um jeden Preis auffallen zu wollen? Warum sich über etwas beschweren, das man selbst aktiv herausfordert?
Etwas zu sagen, indem er es inszenierte, hat Jackson von klein auf gelernt und perfektioniert. Es war sein Beruf, seine Ausdrucksform und bis zu einem gewissen Grad auch zu seiner Persönlichkeit geworden. Was er von Anfang an und bis zu Schluss erreichen wollte, war dabei eigentlich ganz einfach: Dass die Öffentlichkeit – vor allem Musikjournalisten – anfingen, sich mit seiner Arbeit statt mit seiner Haut, seinem Affen oder seinen Schlafgewohnheiten auseinanderzusetzen. Zu dieser Zeit bestand diese Arbeit zu einem guten Teil darin, dem Business, in dem er steckte, den Spiegel vorzuhalten.
Wie immer bei Michael Jackson gibt es auch hier kein Entweder-oder. Er ist nicht entweder das arme Opfer der Medien oder deren raffinierter Manipulator. Er ist nicht entweder den Zirkusdirektor oder der Freak. Er ist stets beides.
Diese Doppelgesichtigkeit ist zentral für das Spiel eines Tricksters, und es ist zentral, dass er seine Tricks nicht verrät. Er beantwortet die Fragen nicht, die er herausfordert. Nur so wird die Spannung gehalten und das Publikum gezwungen, eigene Antworten zu finden. Jackson hat im Laufe seines Lebens viele in ihrer Ambivalenz intensive und schwer wieder loszuwerdende Bilder geschaffen und hat deren Interpretation dem Publikum überlassen. Und die unaufgelöste Spannung zwischen Fakten und Fiktionen reizte die Medien, über Jahrzehnte dranzubleiben.
Außer Kontrolle
Die Geschichten fielen zunehmend ungünstig für Michael aus. Die Hunde, die sich im Vergnügungspark herumtrieben, wurden aggressiver.
Wenn Jackson sich in späteren Jahren häufiger, verletzlicher und wütender über Nachstellungen und Anschuldigungen beschwerte – z.B. in Stücken wie Why you wanna trip on me, Scream, Tabloid Junkie, This time around, 2BAD, D.S., Privacy oder Threatened – war sein Wunsch, gehört und verstanden zu werden, zunehmend schmerzvoll und aufrichtig. Die Selbsterklärungsversuche kamen – zumal nach den ersten Missbrauchsanschuldigungen – zu spät. Das Kind war in den Brunnen gefallen. Jackson hatte die Kontrolle über das öffentliche Storytelling verloren.
Der nächste Artikel wird sich Michael Jacksons intensiver Bühnenpräsenz und seiner sehr eigenenen Körperlichkeit zuwenden.
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