Dieser Baum im Hintergrund der Webseite hat eine besondere Bedeutung für mich, weil er mich an etwas erinnert: Ich kann Ideen nicht erzwingen, kann nicht kontrollieren, wann und woher sie kommen. Ich kann nur dafür sorgen, dass sie sich bei mir wohl fühlen.
Der Baum im Hintergrund der Webseite ist eine Kalifornische Eiche. Das Original steht nahe dem Haupthaus der Neverland-Ranch, und er trägt den Namen Giving Tree.
The Giving Tree war ursprünglich ein Bilderbuch für Kinder von Shel Silverstein, erschienen im Jahr 1964. Er schenkt Leuten, was sie brauchen: Freude, Schatten, Schutz, Nahrung, Holz, …
Für Michael Jackson war es eines jener Bücher, die einen ein Leben lang begleiten und prägen. Yeah! Bäume! Dieser Baum war schon etwas marode, als Jackson die Ranch kaufte. Einige Äste mussten entfernt und andere mit Stahlseilen gesichert werden. Aus dem entfernten Holz ließ er Stufen und eine Plattform zimmern, auf der er sitzen konnte. Weil er schon immer gern auf Bäume geklettert war.
Wenn Jackson in der Baumkrone saß und auf das Grasland, die alten Bäumen und Bachläufe schaute, kamen ihm immer wieder Ideen für Songs. Der Baum wurde zu seinem persönlichen Giving Tree. Er hat einen weiten Blick und Songs verschenkt.
Einfälle
Künstler*innen, egal welcher Gattung, wird immer wieder die Frage gestellt, woher er oder sie nur diese Einfälle nimmt. Jackson antwortete darauf in der Regel so vage Dinge wie from above oder from space oder it creates itself. Was so viel heißt wie: keine Ahnung, doofe Frage.
Es gibt keinen Supermarkt, in dem man Einfälle und Geistesblitze shoppen könnte. Die sind halt plötzlich da, sie fallen unvorbereitet ein, darum heißen sie so. Weil sich das so anfühlt, immer. Man steht da, mit einem magischen Moment beschenkt. Und was dann kommt, ist Arbeit.
Penetrante Wesenheiten
Die Schriftstellerin Elizabeth Gilbert (bekannt für ihren biografischen Roman Eat, Pray, Love) hat zuletzt ein Buch über Kreativität veröffentlicht. Es heißt Big Magic und wird in Deutschland, was ich irritierend finde, in den Buchläden bei den Esoterik-Ratgebern einsortiert.
Vielleicht, weil Magie im Titel vorkommt? Oder, weil kreative Strategien nicht allein im Bezug aufs Schreiben beschrieben werden?
Oder, weil Gilbert die Frage nach dem Ursprung der Ideen nicht psychologisch, neurologisch, biografisch, mit dem Zeitgeist oder irgendwie anders ‚sinnvoll‘ beantwortet? Stattdessen entscheidet sie sich für eine Erklärung, die eher ins märchenhafte Reich des New Age zu passen scheint.
Ideen sind ihrer Meinung eigenständige Wesenheiten. Sie existieren jenseits dessen, was man sehen oder anfassen kann, und damit sie sich manifestieren können, brauchen sie einen menschlichen Partner, und zwar so dringend, dass sie bei einem einfallen müssen und dann unaufhörlich betteln: füttere mich, füttere mich.
Zuwendung / Abwendung
Wenn man eine Idee jedoch zu lange ignoriert oder zurückweist, ihr nicht gerecht wird, es vermasselt, trödelt oder anderweitig versagt, dann geht sie irgendwann wieder weg; manchmal nach Tagen, manchmal erst nach Jahren.
Gilbert beschreibt in Big Magic, wie sie einen Entwurf für einen Roman zu lange vernachlässigt hat. Als sie nach langer Pause wieder daran arbeiten wollte, war das Feuer erloschen, sie fand keinen Zugang mehr dazu. Kurze Zeit später erzählte ihr eine Autorenkollegin, dass sie gerade an einem Roman schrieb. Thema, Plot, Figuren, Handlungssorte waren bis ins Detail identisch, ohne dass die beiden vorher je über den Stoff gesprochen hätten.
Man könnte sagen, die Idee lag eben in der Luft. So wie bei wissenschaftlichen Entdeckungen, die an verschiedenen Orten auf der Welt zeitgleich gemacht werden, weil die Menschheit genug Wissen akkumuliert hat, das dann praktisch zu einer neuen Synthese führen muss.
Oder man könnte sagen: Die vernachlässigte Idee hatte ihre Sachen gepackt und war weitergezogen zu jemandem, der sich besser um sie kümmern würde.
Wenn ich nicht da bin …
Mit dieser Idee ist Gilbert natürlich nicht allein. Man wird von Musen, Dämonen oder von seinem Genius heimgesucht oder verlassen, und Michael Jackson hat stets befürchtet, dass Gott die besten Ideen an Prince weiterreicht, wenn er sich nicht um sie kümmert.
Der Regisseur Kenny Ortega erzählte z.B., dass Michael Jackson bei den Proben zu seiner fatalen This-is-it-Show den Wunsch äußerte, die Victoria-Falls in die Bühnenshow zu integrieren. Ortega fand, die Show war toll und teuer genug und war dagegen.
Michael: But Kenny, God channels this through me at night. I can’t sleep because I’m so supercharged.
Kenny: But Michael, we have to finish. Can’t God take a vacation?
Michael: You don’t understand — if I’m not there to receive these ideas, God might give them to Prince. (http://prince.org/msg/7/321469)
Supergeladen!
Es ist bekannt, dass dieser supergeladene, schlaflose, hypernervöse und mit Propofol unterdrückte Zustand letztlich zu Jacksons Tod geführt hat. Wer kreativ arbeitet, wird zwar zumeist nicht von solch existentiellen Ängsten gequält wie Jackson in den letzten Monaten seines Lebens, aber ich denke, ein gewisses Maß an Angst spielt immer eine Rolle, wenn eine Idee einschlägt: Nervosität, Schmetterlinge im Bauch, Schlaflosigkeit, Rumhibbeln, ständig an die Idee denken müssen, sie umwälzen, auswalken, hoffen und bangen, dass man das auf die Reihe bekommt, …
Es ist eine Art Angstlust, ähnlich dem Gefühl des Verknalltseins, wenn man noch nicht weiß, ob der andere einen auch mag. Eine Mischung aus Vorfreude und der Angst vor Zurückweisung.
Tiefer ins Wasser
Wenn man auf Sicherheit aus ist, kann man sich jetzt zurückziehen und sagen, hu, das ist mir zu schwierig! Wenn es einen allerdings richtig getroffen hat, dann geht man jedes Risiko ein und gibt alles. An Unsicherheit und Nervosität erkennt man, ob eine Idee es Wert ist, sich auf sie einzulassen. Dieses Gefühl zeigt an: Du wagst dich gerade auf neues Terrain vor, hier kennst du dich nicht aus. Genau dann lohnt es sich, weiter zu gehen.
David Bowie hat das in Bezug auf Kunst einmal auf den Punkt gebracht: If you feel safe in the area that you work in, you’re not working in the right area. Always go a little furthwer into the water than you feel you’re capable of being in. Go a little bit out of your depth. And when you don’t feel that your feet are not quite touching the bottom, you’re just about in the right place to do something exciting. (Wenn du dich in dem Gebiet, wo du arbeitest, sicher fühlst, dann arbeitest du nicht im richtigen Gebiet. Geh immer etwas tiefer ins Wasser als du denkst, dass du kannst. Geh ein bisschen über deine Tiefe hinaus. Und wenn du merkst, dass deine Füße kaum noch den Boden berühren, dann bist du ziemlich genau dort, wo du etwas Aufregendes machen kannst.)
Jetzt wissen wir also, wie man mit spannenden Ideen umgeht – man begibt sich mutig in ein Abenteuer. Aber das ganze war ein Ausweichmanöver. Die Frage lautet schließlich, woher kommen die Ideen?
Die psychologische Antwort
Ideen sind ein Konglomerat von Bewusstseinsinhalten. Verschiedene Elemente kommen zusammen, gehen eine Reaktion miteinander ein und werden dabei transformiert.
Das sind biografische Elemente, Informationen, aktuelle Erfahrungen, Begegnungen, Bilder und einiges mehr, was zunächst nichts miteinander zu tun hat. Immer mehr kommt zusammen, es entstehen assoziative Verbindungen, und irgendwann – PENG! – entsteht daraus wie aus dem Nichts eine fertige Idee.
Das klingt ein bisschen wie die Geschichte von der Ursuppe, in der alle möglichen Aminosäuren herumkurven, sich verbinden, wieder trennen, und plötzlich – PENG! – ist da der erste Einzeller. Leben! Das klingt toll, ist letztlich jedoch eine ebenso fantastische Geschichte wie die Vorstellung von Ideen als Wesenheiten oder göttliche Schaffensaufträge.
Einfach die Party genießen
Mir gefällt die Idee, dass all die Bilder und Gedanken, die sich im Alltag der Reihe nach anstellen und gefälligst nicht so einen Lärm machen sollen, letztlich sowieso tun, was sie wollen. Also los, bitte, tut euch keinen Zwang an. Ich kann den Prozess nicht kontrollieren, aber das ist okay, denn darum geht’s ja. Man hat es nicht unter Kontrolle. Man weiß nicht, woher es kommt und warum gerade jetzt. Prima, bitte weitermachen!
Die metaphorische Antwort
Ideen sind wie Samen. Eine Neverland-Eichel fällt auf den Boden. Wenn kein Wurm in der Eichel und der Boden fruchtbar ist, keimt sie, wächst, entfaltet Äste, Zweige, Blätter, ein Wurzelwerk, neue Eicheln.
Der ganze Baum steckte als ‚Idee‘ bereits in der Eichel. Er wächst von allein. Aber wenn du an den Trieben und Zweigen zerrst, damit er schneller wächst, reißt du den jungen Baum vielleicht samt Wurzeln aus.
Das einzige, was du tun kannst / musst, ist den Boden zu bereiten, für genug Licht, Wärme, Feuchtigkeit zu sorgen. Schaffe eine Umgebung, in der der Baum gedeihen kann.
Kitschig, oder? Aber immerhin, auch ziemlich wundersam.
Der eigene Giving Tree
Den Boden bereiten, das heißt für mich: Mir vor dem Alltag geschützte Orte und Zeiten zu suchen, die meine Dämonen/Musen wiedererkennen. Sie sollen sich sicher fühlen, hervorkommen und spielen. Ob man dazu wie Michael Jackson auf einen Baum klettert, mit Lego spielt oder joggen geht, ist Geschmackssache.
Aber es ist eine wirklich gute Idee, in irgendeiner Form seinen eigenen Giving Tree zu pflegen und ihn regelmäßig zu besuchen. Ich habe zwei:
Lange, ziellose Spaziergänge, bei denen ich mich einfach durch die Stadt treiben lasse und möglichst oft Wege wähle, die ich noch nie gegangen bin.
Mein roter Sessel, Kopfhörer auf und in Musik eintauchen.
Äußere Mächte als Antwort
Eine Idee ist ein Dämon, eine Muse, eine eigenständige Wesenheit mit dem dringenden Wunsch, sich zu materialisieren, ein Genius, der sich ausdrücken will, ein göttlicher Auftrag. Wenn eine Idee dich erwählt, hast du die einmalige Chance, ihr ins Leben zu helfen. Damit gehst du eine Bindung und eine Verantwortung ein. Du musst alles geben, damit sie sich in bestmöglicher Form auf dieser Seite der Realität erscheinen kann.
Das mit den Musen ist eine ziemlich altmodische Sicht. Und ein bisschen gruselig, weil man sich nicht sicher sein kann, dass Ideen immer nur Gutes im Schilde führen.
Gäste einladen
Die Möglichkeit, dass Ideen zunächst einmal etwas Eigenständiges, von mir Getrenntes sind, gefällt mir trotzdem. Dann kann ich sie einladen, zur Party zu kommen. Viele von ihnen. Und noch mehr. Ich habe Platz in meinem prinzipiell unendlich großen Innenraum! Und wenn jemand wegbleibt, kann ich sagen, tja, dann eben nicht. Vielleicht beim nächsten Mal.
From Spaß
Wenn mich jemand fragt, woher ich die Ideen nehme, sage ich ab jetzt sowas wie hab ich bei einer meiner multiplen Persönlichkeiten aufgeschnappt oder von den Aliens drüben im Schlafzimmer.
Was ist Euer Giving Tree? Wo wird das Waser tiefer?
Wenn Ihr Lust habt, schreibt doch in die Kommentare, was euer persönlicher Giving Tree ist. Je mehr Beispiele wir sammeln, desto inspirierender für alle.
Und habt Ihr euch bei einem kreativen Projekt schon mal in eine Zone begeben, wo Ihr nicht mehr sicher stehen konntet? Was ist daraus geworden?
David Pientka meint
Ich habe zwei Bäumchen, die ich fleißig pflegen darf:
1. Kaffee!
Klingt vielleicht dämlich, allerdings verbinde ich damit ein Ritual: Ich mahle mir besonderen Kaffee in meiner Handmühle und gieße ihn auf. Das ist für mich ein Ritual, das mich auch zwingt, abzuschalten und mich zu erden. Mit der Tasse setze ich mich dann gemütlich an den Laptop und arbeite. Das funktioniert meist sehr gut und sobald die erste Hürde überstanden ist, fliegen die Finger seit einiger Zeit nur noch so über die Tasten.
2. Zugfahrten.
Das passt vielleicht noch zu dem Gedanken, sich in Situationen zu begeben, die Angst machen. Im Zug sind überall fremde Leute. Und lange hatte ich wirklich Probleme, wenn ich das Gefühl hatte, dass mir Andere über die Schulter hinweg beim Schreiben zuschauen (und natürlich auch gleich alles negativ bewerten). Das Zugfahren hat mich hier geheilt und mittlerweile macht es mir nichts mehr aus. Ich setze mich auch gerne in belebte Cafés oder auf öffentliche Plätze um zu arbeiten. Mittlerweile macht das tierischen Spaß.
Viele Grüße,
David
Karla Schmidt meint
Cool, Danke! 🙂
Das Wagnis, in der Öffentlichkeit zu schreiben, wollte ich am Anfang auch kaum eingehen, und mittlerweile gehört es selbstverständlich dazu.
Johannes meint
Toller Artikel Karla!
Gute Gespräche sind ein guter Ort wo Ideen mich finden!
Karla Schmidt meint
Danke, Johannes!
An Gespräche habe ich noch gar nicht gedacht. Aber stimmt natürlich. Wenn ich z.B. an die vielen Gespräche mit Annette denke, die den Baum gemalt hat – viele Ideen zu MJ wären mir nie in den Sinn gekommen. Und das Buch, das ich gerade überarbeite, gäbe es gar nicht, wenn meine Tochter sich nicht nach jedem Kapitel hingesetzt und mit mir darüber gesprochen hätte.
Babsy meint
Klasse Artikel, Karla. Mein giving tree ist meistens der Haushalt. Wenn ich nicht weiterkomme, putze ich das Bad oder wische Staub, ich lenke mich einfach ab. Wenn ich dann nicht mehr so fokussiert bin, kommt mir irgendwann von ganz allein ein Geistesblitz und dann gehts weiter. So schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe, man kann ja auch nicht ständig vor dem Rechner sitzen 😉 Spaziergänge im Grünen sind auch immer gute Gedankensortierer.
Karla Schmidt meint
Guten morgen, Babsy. Sehr praktisch! Ich wünschte, das mit dem Haushalt würde bei mir auch so klappen … 😉 Aber vielleicht muss ich es nur anders betrachten. Nicht als nerviges Einerlei, sondern als Entspannungspause.
Susanne Dickbrenner meint
Liebe Frau Schmidt,
ich bin eher zufällig auf Ihre Seite geraten auf der Suche nach dem Giving-Tree von Michael Jackson. Genauer gesagt würde mich interessieren, um welche Eiche es sich genau handelt, die Kalifornische Schwarz-Eiche (was ich vermute) oder die Kalifornische Weiß-Eiche. Haben Sie diesbezüglich eventuell genauere Informationen? Ich würde mir nämlich sehr gerne Samen eines solchen Baumes besorgen und in meinen Garten pflanzen. Es ist interessant, ja fast schon magisch, dass ich auf der Suche nach diesem bestimmten Baum ausgerechnet auf Ihre Seite gelangt bin, denn ich halte mich selbst für einen sehr kreativen Menschen. Ich schreibe gerade meinen ersten Roman, ich male und zeichne, und ich photographiere. Hierbei sind meine Lieblingsmotive immer wieder Bäume in allen Arten von Licht. Zu gerne würde ich den echten Giving-Tree auf Neverland einmal besuchen und zeichnen oder photographieren.
Auf jeden Fall wäre ich Ihnen für eine kurze Rückmeldung (wann immer Sie die Zeit finden) sehr dankbar.
Herzliche Grüße,
Susanne D.
Karla Schmidt meint
Liebe Susanne D.,
leider habe ich da auch nicht mehr Informationen als Sie. Ich dachte bisher, es handelt sich um eine Korkenziehereiche, aber ich kann mich irren. Wenn man “Korkenziehereiche” bei Google in die Bildersuche eingibt, erhält man Bilder von Bäumen, die exakt so aussehen wie der Giving Tree.
Dass Sie selbst schreiben, ist natürlich tatsächlich ein toller Zufall!
Ich wünsche Ihnen viel Glück bei der Suche nach der richtigen Eichenart. 🙂
Andrea Castrop meint
Liebe Frau Schmidt,
der Garten meiner Mutter. Sie hält ihn wild – Kletterrosen wachsen in alte Bäume hinein, der Rasen ist Wildblumen und Obstbäumen gewichen und es gibt nur noch kleine Trampelpfade zwischen den Pflanzen. Am Eingang zum Garten steht eine alte, knorrige Trauerweide. In besonderen Nächten gehe ich hinaus und habe das Gefühl, die Bäume sprechen zu mir. Dort lebt alles und überschüttet mich mit wundersamen Gedanken und Vorstellen. Hier könnten tausend Märchen spielen. Wenn ich dann wieder gehe, bleibe ich kurz bei der Trauerweide stehen und bedanke mich. Verrückt, ich weiß, aber so war es schon in meiner Kindheit. *lach*
Viele Grüße
Andrea Castrop
Karla Schmidt meint
Liebe Frau Castrop, Danke für Ihre Trauerweide! Ich kann sie fast vor mir sehen und finde das überhaupt nicht verrückt. Es ist einfach eine beglückende Erfahrung, sich so mit der Welt verbinden zu können. 🙂