
Am 24. Februar 1993, sechs Monate, bevor die ersten Missbrauchsvorwürfe gegen ihn um die Welt gehen, bekommt Michael Jackson von seiner Schwester Janet einen Grammy Legends Award überreicht. Als ihr Bruder anschließend auf die Bühne tritt, erklärt sie zunächst, dass es weniger der Star, sondern vor allem der Bruder ist, den sie liebt und verehrt. Der Award wird überreicht und Michael macht einen Witz darüber, dass er und Janet tatsächlich zwei verschiedene Personen sind.
Die Klatschpresse hatte schon seit einiger Zeit kolportiert, dass die beiden Jacksons dieselbe Person seien und dass Michael sich auf diese Weise jetzt nicht mehr nur in einen Weißen, sondern auch endgültig in eine Frau verwandeln wollte – wieder, ohne es ‚zugeben‘ zu wollen.
Michael ist gut drauf bei dieser Veranstaltung, strahlend, frei von Schmerzmitteln und ganz anders als bei manchem Auftritt, bei dem er sich sichtlich unwohl fühlt und sich um Kopf und Kragen redet. Die Lacher sind auf seiner Seite. Nachdem er sich bedankt hat, hebt er zu einer vorbereiteten Rede an:
[…] I must confess it feels good to be thought of as a person and not as a personality. Because … (Applaus) … I don´t read all the things written about me. I wasn´t aware that the world thought I was so weird and bizarre. But when you grow up as I did in front of one hundred million people since the age of five you´re automatically different.
Beunruhigende Differenz
Differenz, Anderssein, der Unterschied an sich, wie man ihn in Szene setzt und wie man darauf reagiert, sagen eine Menge über den Zustand einer Gesellschaft aus. Wird Abweichung von der Norm toleriert? Wieviel Distanz zur Norm wird noch als spannend empfunden, ab welcher Distanz entsteht ein Gefühl von Fremdartigkeit oder Bedrohung? Warum wirkt ein Performer wie Marilyn Manson, dessen äußere Erscheinung bewusst auf monströs und freaky angelegt ist, so vollkommen unbedrohlich, während jemand wie Michael Jackson, der vor allem unendlich nett wirkt, als Bedrohung empfunden wurde?
Vielleicht, weil man Marilyn Manson in seiner Freak-Nische sicher weiß. Dort hat er sich selbst hingestellt, und dort wird er auch nicht freiwillig wieder herauskommen. Man hat nicht den Eindruck – anders als bei Michael -, dass er damit etwas zu verbergen versucht.
Michael hingegen hat das Freak-Image zugleich erzeugt und infrage gestellt. Man konnte sich mit ihm als Freak nicht ohne weiteres wohlfühlen, weil seine Inszenierungen den Zuschauer auf sich selbst und seine eigene Wahrnehmung zurückwarfen. Das war zunächst ein bewusster Akt, ist dann aber zunehmend außer Kontrolle geraten (wie ich in einem andernn Artikel noch ausführen werde).
King of Pop
Es ist ein Merkmal des Popmarktes, dass er allem ein Label aufkleben und es darunter verkaufen kann – selbst dem erklärten Vermarktungs- oder System-Feind; dem Hofnarren, der als Druckventil mit in die Maschinerie hereingenommen wird.
Trotz (oder wegen?) seines immensen kommerziellen Erfolgs war dies jedoch die eine Sache, die bei Michael Jackson nicht richtig gelang: Man konnte ihn nicht in eine Schublade mit einem Schild ablegen, weder was sein Aussehen noch seine Fanbasis noch seine Musik betraf. Der Titel ‚King of Pop‘ erhob ihn in eine Kategorie, in der er gewissermaßen über dem Gesetzt stand.
Er benutzte einfach alles, von Klassik über Gospel, Hip Hop, Balladen, Hymnen, Soul, Funk, Hard Rock, Moritat, Musical, Kinderlied, Disco, Swing, Jazz, … und so weiter. Er war überall und nirgends zugleich, war ungreifbar und allgegenwärtig – und hatte darum vielleicht mehr Einfluss und Autonomie, als man ihm zugestehen konnte. Off the Wall beendete die Disco-Ära, Thriller machte Michael zum Pop-Monster, das alle bis dato bekannten Dimensionen sprengte, und BAD führte einen neuen Michael Jackson ein, der vor allem befremdliche Rätsel aufgab, während er zugleich weitere musikhistorische Rekorde brach. Je unkontrollierbarer Jackson war, desto mehr er zum ‚Wacko Jacko‘ und Zirkusfreak stilisiert.
Dabei ging es vor allem um Definitionsmacht und Geld. Der über Jahrzehnte andauernde Streit zwischen Michael Jackson und Sony über die Kontrolle des ATV-Katalogs, der u.a. die Verwertungsrechte an den meisten Beatles-Songs enthält, war greifbarer Ausdruck dieses Tauziehens. Die über die Jahre zunehmend schlechte Presse, seine Neudefinition als trauriges, lächerliches oder gefährliches Monster, hat den “King of Pop” schließlich gestürzt. Nach Jacksons Tod 2009 begann eine Rehabilitierung, und im Jahr 2016 schließlich hat der Michael Jackson Estate den ATV-Katalog an Sony verkauft.
Den Dämon austreiben
Im Thriller-Short-Film (1983) wird das Thema ‚Differenz‘ für Michael erstmals zentral. Selbst jemand, der sich nie für Jackson interessiert hat – das Video mit Werwolf-Parodie samt schreiendem Mädchen und tanzenden Zombies hat man irgendwann einmal gesehen.
Michael wollte in diesem Video unbedingt ein Monster spielen und hat John Landis gefragt, ob er Regie führen würde, weil ihm dessen Horror-Parodie An American Werewolf in London (1981) gefallen hatte. Thriller sollte scary und spaßig zugleich werden. Michael selbst hat nicht gerne Horrorfilme gesehen, weil er sich tatsächlich fürchtete. In einem Telefongespräch mit einer Freundin (Glenda Stein) erzählt Michael vom Ursprung seiner Ängste – von seinem Vater:
M: He used to scare us when we was [sic] little. When we were asleep and we had to get up early in the mornings. We had to have rehearsals before we went to school. God, and he banged on the windows and we looked out the windows and he had a monster mask on and … „Mother, mother, mother, there’s a monster!“
G: How horrible!
M: And we’d get in trouble for crying.
Diese Maßnahme sollte den Kindern vor Augen führen, warum es wichtig ist, nachts das Fenster zu schließen, auch wenn das Zimmer klein ist und man zu sechst in zwei Stockbetten schläft und die Luft entsprechend dick ist. Die Maßnahme hat insofern gewirkt, als dass Michael unter nächtlichen Ängsten zu leiden begann, die sich bis ins Erwachsenenalter fortsetzten. Abgesehen davon, dass er nachts ohnehin oft wach (und kreativ) war, musste bei ihm zum Schlafen ein Licht an bleiben oder der Fernseher laufen.
Thriller kann in diesem Kontext durchaus als Austreibung eines Kindheits-Dämons gewertet werden. Dass es in dem Kurzfilm unbedingt ein Werwolf sein musste, den Michael spielte, könnte zudem auch mit seiner Lupus-Erkrankung tun haben. Die Erkrankung hatte für Jackson möglicherweise sogar schwerwiegendere Folgen als Vitiligo: Zu der Zeit, als die ersten Symptome auftraten, wusste man noch nicht viel darüber. Heute weiß man: Betroffene sollten sich ohne Not keinerlei Operationen unterziehen, weil ein Krankheitsschub Heilungsschwierigkeiten und Gewebenekrosen zur Folge haben kann. In dem Fall stirbt Gewebe ab und muss entfernt werden. Die Probleme, die Jackson zeitlebens mit seiner Nase hatte, ließen sich, wie Gerichtsmediziner Dr. Richard Strick erklärt hat, auf die plastische Operation in der Thriller-Zeit zurückführen.
It’s only a movie!
Wenn ich den Thriller-Kurzfilm in diesem Kontext betrachte, dann ist für mich vor allem die tricksterhafte, von boshaftem Spaß durchdrungene Ambivalenz faszinierend, die anziehend-bedrohliche Undefinierbarkeit, die Michael hier erstmals ganz bewusst in Szene setzt. Man spürt hier noch nichts von dem realen Leid, das seine fortwährende Verwandlung mit sich bringen sollte.
Der vierzehnminütige Film beginnt mit einer klassischen Junge/Mädchen-Szene, angesiedelt in den biederen 1950er Jahren, mit entsprechend keuschen Outfits: Michael bringt seine Freundin (Ola Ray) nach Hause, der Wagen bleibt liegen, kein Benzin mehr im Tank. Ola hält das zuerst für einen Trick, damit Michael sie in Ruhe ein bisschen befummeln kann, und sie fragt ironisch:
So, what are we going to do now?
Sie steigen aus und gehen zu Fuß weiter, schweigend, bis Ola sich entschuldigt, dass sie ihm die Sache mit dem leeren Tank nicht geglaubt hat.
Michael nimmt das zum Anlass, sie ganz formell zu fragen, ob sie mit ihm gehen will und steckt ihr einen Ring an.
Now it´s official, sagt er stolz.
Doch die romantische Geste entpuppt sich als Falle, denn erst jetzt offenbart er ihr: I´m not like other guys.
Sie ist geradezu hingerissen von seiner wohlanständigen Zurückhaltung: Of course not, that´s why I love you!
Er: No. I mean, I´m different.
Er jetzt, als der Mond hinter den Wolken hervorkommt, bringt er die Differenz, das Andersartige ans Licht: Michael verwandelt sich unter Grunzen und Schreien in einen Werwolf. Noch hat er einen Rest Kontrolle über das Tier in sich. Go away!, brüllt er.
Und wie das in einer ordentlichen Horror-Film-Parodie sein muss, rennt das Mädchen nicht etwa los, sondern es schreit erst einmal. Und schreit und schreit. Michael, jetzt ganz Monster, ist hinter ihr her, sie fällt, er beugt sich über sie, ihre Augen weiten sich in Angst, riesige Pranken, scharfe Krallen kommen näher, noch näher und … Cut.
Dann ein Kinosaal. An den Reaktionen des Publikums ist zu erkennen, dass es wohl schlimm sein muss, was der Werwolf jetzt mit dem Mädchen tut. Im Publikum sitzen auch Michael und seine Freundin, diesmal in der damals aktuellen 1980er-Jahre-Ausführung. Er kaut angesichts des Grauens mit feistem Grinsen Popkorn, sie kann nicht hinschauen.
Sie: Can we go?
Er: No, I´m enjoying this!
Ola verlässt beleidigt den Saal, Michael folgt ihr und erinnert sie daran: It´s only a movie!
Das letzte ist nicht bloß eine Dialogzeile, sondern eine Aussage: Das sexuell aufgeladene, Mädchenfleisch fressende Monster, das Michael gespielt hat, ist nicht real.
Es ist nur eine im kulturellen Bewusstsein gespeicherte Figur, ein alberner Horrorfilm, in dem aus einem Bild, das mit Angstlust besetzt ist, kathartisch der Druck herausgenommen wird: Das Tier im Mann, das die Jungfrau reißt!
Gerade diese Fantasie wird in der US-Amerikanischen Kultur spezifisch auf ‚den schwarzen Mann‘ projiziert. Es handelt sich um eine tabuisierte erotische Fantasie, die sich in den Freakshows des 19. Jahrhunderts mit ihren ‚weißen Negerkönigen‘ ebenso wie in den Lynchmorden an schwarzen Männern manifestierte, die ein weißes Mädchen zu lange angeschaut hatten. Dabei ging es weniger um den Schutz von Frauen als um die wahrung des Besitzstandes.
Thrill you tonight
Im Thriller-Short-Film bringt Michael seine Freundin nach dem Kino (erneut) nach Hause, singt ihr dabei weitere Gruselklischees vor und erklärt auch gleich, warum er das tut:
Now is the time for you and I to cuddle close together, yeah. All through the night I‘ll save you from the terror on the screen I‘ll make you see. `Cause I can thrill you more than any ghoul would ever dare try. So let me hold you tight […] I‘m gonna thrill you tonight.
Mit seiner Darbietung, die Drohung und Versprechen zugleich ist, will er sie für sich einnehmen. I’m gonna thrill you tonight ist hier nichts anderes als ein Sexangebot. Im Film ist Michaels Freundin das Ziel des Balzspiels. Man kann sie jedoch ebenso gut als Platzhalterin für Jacksons Publikum sehen: Bei dem ganzen spaßhaften Gegockel geht es letztlich nur um eins – es dem Publikum ordentlich zu besorgen.
Ständige Verwandlungen
Und nun wird es ernst. Michael und seine Freundin kommen an einem Friedhof vorbei und werden von Zombies, die aus ihren Gräbern steigen, eingekreist. Jacksons erklärter Lieblingsmoment im Film war der sogenannte Vertigo-Shot, der nach einer berühmten Szene aus Alfred Hitchcocks Film Vertigo benannt ist: Die Kamera fährt zurück, während sie an das Motiv im Vordergrund heranzoomt.
Das Ergebnis ist eine paradoxe Bewegung, ähnlich dem Moonwalk. Das Objekt vor der Kamera scheint dem Betrachter näherzukommen, während der Hintergrund zurückweicht. Diese Bewegung spiegelt vor allem eine emotionale Bewegung: Michael hat sich in einem Zombie verwandelt, der jenseitige Schrecken dringt auf das Mädchen ein, während die diesseitige Welt zurückweicht.
Während der Werwolf-Michael eindeutig Kinofantasie war, kann man sich an dieser Stelle nicht mehr sicher sein. Moment? Wer ist Michael denn nun wirklich? Ist er der nette Junge von nebenan, der ‚gute Neger‘, dessen Poster sich jetzt, Anfang der 1980er Jahre, auch weiße Mittelstandsmädchen übers Bett hängen durften? Oder ist er nicht vielleicht doch ein schwarzes Monster?
Erst nach dem verzögernden und dadurch die Spannung steigernden Vertigo-Shot beginnt Michael als Anführer der Zombie-Meute mit der berühmten Tanz-Sequenz. Cause this is thriller, thriller night …
Das Mädchen findet Zuflucht in einem verlassenen Haus, die Zombies dringen ein, sie schreit, und diesmal hat die Szene kaum noch etwas Parodistisches, sie wirkt tatsächlich bedrohlich. Michael, mit starrem Gesicht und aufgerissenen Augen, schlurft auf sie zu, greift nach ihr. Jetzt schreit sie nicht mehr, sie verstummt … Cut.
What’s the problem?, fragt ein nun wieder nett lächelnder Michael und bietet ihr (zum dritten Mal) an, sie nach Hause zu bringen.
Jetzt – endlich! – schmiegt sie sich eng an ihn, erleichtert, dass das Grauen bloß überspannte Fantasie war und ihr Freund ihr gar nicht wirklich ans Leben bzw. an die Wäsche wollte.
Exhibitionistisches Kino
Die letzte Einstellung des Films: Michael dreht sich, das ahnungslose Mädchen fest im Arm, zur Kamera um. Seine Augen sind katzenhaft gelb, das Grinsen voll diebischer Freude. Dieser letzte Blick sagt: Seht ihr, ich hab sie doch rumgekriegt! Und euch auch!
Jackson nimmt an dieser Stelle aktiv Kontakt zum Publikum auf und zeigt ihm den Trickster, der die ganze Zeit die Kontrolle über das Geschehen hatte, der mit dem Zuschauer ebenso gespielt hat wie mit seiner Freundin. Dieser eine Blick sagt, wenn auch im Spaß: Ich weiß, du siehst mich, und wir beide wissen, was du siehst, gefällt dir. Wir wissen, was gleich passieren wird, Jungfrauenblut wird fließen, und das macht dich an … am liebsten würdest du zuschauen.
Es handelt sich um eine sowohl schalkhafte als auch beunruhigend begehrlich aufgeladene Herausforderung zu weitergehenden Fantasien.
Jackson und Regisseur John Landis greifen hier auf ein kinematografisches Mittel aus der Anfangszeit des Films zurück, als Schauspieler noch regelmäßig Kontakt mit der Kamera aufnahmen. Das Kino jener Zeit kann in diesem Sinne als ‚exhibitionistisch‘ verstanden werden. Das ‚Gesehenwerden‘ war den Figuren bewusst, und sie demonstrierten dem Zuschauer dieses Wissen.
Der voyeuristische Blick
Im Gegensatz dazu steht das ‚voyeuristische‘ Kino, das sich historisch durchgesetzt hat: Hier haben die Schauspieler so zu tun, als seien ihre Figuren sich des Kameraauges nicht bewusst. Der Zuschauer wird damit zum heimlichen Zuschauer, zum Schlüssellochgucker eines als authentisch ausgegebenen Geschehens.
Dieses Prinzip des voyeuristischen Blicks wird im Thriller-Kurzfilm zweifach thematisiert; das erste Mal, wenn die Werwolf-Sequenz als Film im Film offenbart wird – But it’s only a movie! – und das zweite Mal, wenn der katzenhafte Michael am Ende Blickkontakt mit dem Zuschauer aufnimmt. In beiden Fällen ist es Michael, der den gleichermaßen durch Schrecken und Begehren motivierten Blick lenkt.
Genau dieser Blick hat Michael Jackson ein leben lang verfolgt, und er hat erst mit großem, dann mit zunehmen weniger Erfolg versucht, den Voyeurismus des öffentlichen Blicks zu lenken. In seinem 1997 auf Blood on the dancefloor erschienenen und in dem 40miütigen Kurzfilm Ghosts aufgenommenen Song Is it scary beschreibt er den Kampf um den öffentlichen Blick:
I’m gonna be exactly what you wanna see, it’s you whose haunting me, you’re warning me to be the stranger in your life. Am I amusing you or just confusing you, am I the beast you visualised. And if you wanna see eccentrialities, I’ll be grotesque before your eyes. Let them all materialise! Is that scary for you baby, am I scary for you, is it scary for you baby, is it scary for you? You know the stranger is you, and you’re scaring me too.
Wo es um den öffentlichen Blick geht, muss das Publikum naturgemäß immer mit zur Inszenierung gehören, es ist Teil des Geschehens, und Michael suchte die direkte Verbindung sicher unter anderem auch deshalb, weil er in diesem Spiel um die Deutungsmacht über die öffentliche Figur ‘Michael Jackson’ einen Verbündeten brauchte.
Getrenntsein und Verbundenheit
Die Dynamik zwischen Performer und Menge gehörte bei Jackson durchgängig zum Inszenierungsprinzip. Es zeigt sich u.a. in den Filmen zu Beat it (1983), Come together (1987), BAD (1988), Give in to me (1992), Will you be there (1993), im umstrittenen HIStory-Teaser (1995), in They Don´t Care About us (1996) und Ghosts (1996) und im unvollendeten One more Chance (2001), in dem das Publikum auf der Bühne steht und Michael allein im Zuschauerraum ist. Immer werden das Publikum und seine Reaktionen zusammen mit Michaels Auftritt inszeniert. Dabei werden zwei Themen verhandelt:
Erstens das schmerzliche Getrenntsein des King of Pop/Freaks von ‚normalen Menschen‘. Die unsichtbare vierte Bühnenwand, die ihm vom Zuschauerraum trennt, das Leben im Goldfischglas schwingen als Schmerz spürbar mit.
Und zweitens die Energie, die dabei dennoch zwischen Bühne und Publikum ausgetauscht wird, die Dynamik, die die vierte Wand überwindet und über die Michael Jackson gesagt hat:
„Fame can be imprisoning. But the best part of being Michael Jackson is that I know I can interact with millions of people; and in that interaction we exchange something.“
„Which is . . . ?“
„Love. It is exhilarating. It is magic.“ (Chicago Tribune Interview 1992 mit Glenn Plaskin)
Die Trennung aufheben
Diesen Austausch kann man besonders bei Mitschnitten von Michael Jacksons Konzerten gut beobachten: Die Kamera ist ausgesprochen oft im Zuschauerraum und auf den Gesichtern von lachenden, tanzenden, weinenden, schreienden, in Ohnmacht fallenden oder gar betenden Fans. Es wird fortwährend Kontakt zwischen Bühne und Zuschauerraum hergestellt. Seit der BAD-Tour gehörte es auch zu jedem Konzert, dass ein von der Security aus der Zuschauermenge ausgewählter Fan auf die Bühne kommen durfte, um Michael, oft unter Tränen und hysterischen Ausbrüchen, ausgiebig zu umarmen. Der Song, den Michael dazu sang, was immer derselbe: She’s out of my life, ein rührseliges Stück, in dem es darum geht, dass ein Mann zu spät erkannt hat, dass er eine Frau liebt, und nun ist sie unerreichbar für ihn. Die Legende will, dass es Michael während der Aufnahmen für das Off the Wall-Album nicht möglich war, den Song einzusingen, ohne immer wieder in Tränen auszubrechen, bis Qunicy Jones entschied: Dann soll es eben so sein, dann sind diese Einsamkeitsschluchzer eben mit auf der Platte.
Während der BAD-Tour kam zum Finale auch immer eine Gruppe zuvor ausgewählter Kinder auf die Bühne, um mit Michael zu BAD zu tanzen, und während Dangerous-Tour wurden Statisten für das Konzertfinale mit Heal the World mit auf die Bühne gebracht.
Stärker als diese inszenierten Fan-Besuche beeindrucken jedoch die ungeplanten Zwischenfälle. Ein besonders rührender Verbindungs-Moment entsteht, als es während der HIStory-Tour einem männlichen Fan in Korea gelingt, während der Earth-Song-Performance zu Michael auf den Cherry Picker zu springen. Michael bricht den Song nicht etwa ab, sondern er sichert den selig-glücklichen Fan, hält ihn fest im Arm und singt weiter, bis der Cherry-Picker wieder herunterfährt und der Fan in Sicherheit ist. Hier bricht die vierte Wand für einen Moment wirklich auf.
Den andern in sich hereinnehmen
Michaels Hugs waren auch jenseits der Bühne unter Fans bekannt und begehrt. Wer immer nahe genug an ihn heran kam, konnte darauf hoffen, in eine feste und ausdauernde Umarmung gezogen zu werden. Eine solche Umarmung ist grundsätzlich eine Geste, die den andern in den eigenen, intimen Raum aufnimmt. Sie vermittelt Vertrauen, Aufgehobensein, Trost, Zusammenhalt.
Diese unmittelbare, herzliche und oft über jede Vernunft hinaus freigiebige Kontaktaufnahme ist bei Michael Jackson allgegenwärtig und gerade wegen seiner offensichtlichen Andersartigkeit möglichweise eine seiner wichtigsten Botschaften gewesen. Unbedingte Zuwendung jenseits aller Unterscheidungen ist auch eines der universellen Kinderrechte, die Jackson 2001 in einer Rede in Oxford formulierte: […] the foundation of all human knowledge, the beginning of human consciousness, must be that each and every one of us is an object of love. Before you know if you have red hair or brown, before you know if you are black or white, before you know of what religion you are a part of, you have to know that you are loved.
Der Entrückte
Parallel dazu wurde Jackson mit den Jahren zunehmend zu jemandem stilisiert, der Angst vor Bazillen hatte, auf Distanz blieb, entrückt war. Er lebte auf einer Ranch mit dem Namen Neverland, die ausdrücklich nicht zu dieser Welt gehören wollte, er trug Sonnenbrillen, Handschuhe, Chirurgenmasken, ließ sich mit den Jahren immer mehr abschirmen und sprach in der Öffentlichkeit so wenig wie möglich. Dieses Verhalten legte er gegenüber Fotografen und einer Presse an den Tag, die ihm ständig ans Leder wollte. Auch das trug vermutlich zu der unterschwelligen Wahrnehmung bei, er habe etwas zu verbergen gehabt.
Freunde und Fans, die in Kontakt mit ihm kamen, berichten jedoch etwas anderes: von aufrichtiger Anteilnahme und Zuwendung, Großzügigkeit, Warmherzigkeit, Neugier, Normalität und einer Menge unkompliziertem Spaß auf der positiven Seite – und von verletzenden Ausweichbewegungen, Konfliktscheue, Trotz, Sturheit und der immer mehr verlorengehenden Fähigkeit, Menschen zu vertrauen auf der anderen Seite.
Michael Jackson lud regelmäßig Fans in seine Hotelzimmer und nach Hause ein, ließ denen, die vor seiner Tür kampierten, Decken und Pizza bringen, kurbelte auch gerne mal das Wagenfenster runter und hielt ein Schwätzchen, während seine Bodyguards vor Angst schwitzten. Er wurde gerade von Fans auf eine sehr unkomplizierte, direkte Weise geliebt und brauchte dieses Gefühl möglicherweise auch deshalb, weil alle andern Beziehungen in seinem Leben zunehmend schwierig und komplex wurden.
Die Andersartigkeit annehmen
Anders zu sein ist nicht unbedingt etwas, was man sich aussuchen kann. In Michael Jacksons Fall war sie zunächst schicksalhaft, und dann erst hat er sie bewusst angenommen und gestaltet. Er wusste, was es bedeutet, isoliert zu sein, gehänselt und geschlagen zu werden, eine Kindheit zu entbehren, er wusste, was Krankheit und Schmerz bedeuten (wir haben noch gar nicht über den Pepsi-Incident gesprochen) und wie man sich fühlt, wenn man als Aussätziger wahrgenommen wird. Dass Michael Jackson traumatische Erfahrungen in Stärken verwandeln konnte, mag mit dafür gesorgt haben, dass er überhaupt so lange überleben konnte.
Zu verschiedenen Gelegenheiten hat er formuliert, dass er die Verpflichtung fühlt, sein Talent einzusetzen, um etwas zum Guten zu bewegen. Möglicherweise erlaubte ihm diese Selbstverpflichtung keinen Rückzug und keine Anpassung an die Norm. Im Gegenteil: Er hat gerade seine Andersartigkeit oft als Quelle seiner Kreativität beschrieben und verteidigt und ist Anfeindungen einerseits mit wütendem Trotz, andererseits mit noch mehr Entgegenkommen, Mitgefühl und praktizierter Nächstenliebe begegnet.
Im einem der nächsten Artikel wird es um diese Selbstverpflichtung einerseits und um den lebenserhaltenden Trotz andererseits gehen.
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