Gestern war ich bei Lisa Kuppler im Krimibüro. Eigentlich wollte ich nur ein paar Flipchart-Seiten für einen geplanten Handwerks-Artikel übers ‚auktoriale Erzählen‘ abholen.
Natürlich haben wir uns festgeredet, und irgendwann kam die Sprache auf eines der ewigen Büchermensch-Themen: Geschichten sind nicht einfach nur Geschichten. Und die nichtphysischen Welten in Träumen, Büchern, Filmen, Games oder dem Netz sind nicht irreal. Es sind Wirklichkeiten im vollen Wortsinne; das Wort trägt seine Bedeutung auf dem Revers. Es bezeichnet ein Umfeld, das wirkt.
Und wenn es richtig doll wirkt, öffnet das Möglichkeitsräume, die wiederum auf Realität zurückwirken können. In dem Fall hat ein bloßes Hirngespinst, etwas Nichtphysisches, völlig Irreales die Welt verändert. Sage also bitte niemand, Geschichten hätten kein Gewicht in der Welt. Im Gegenteil. Sie sind Anstoß und Motor jeglicher zivilisatorischer Entwicklung.
Realitätsflucht
Die Unterscheidung zwischen ‚Realität‘ und ‚Wirklichkeit‘ macht es einfacher, über die Wirkmächtigkeit von Geschichten zu sprechen. Nicht nur von denen, die zwischen Buchdeckeln stecken, sondern auch denen, die wir täglich um unsere Identitäten spinnen.
Von ‚Wirklichkeiten‘ zu sprechen öffnet den Blick für die Begrenztheit eines rein auf Realismus ausgerichteten Lebenskonzepts. Realität wäre demnach das, was man anfassen, messen und beweisen kann. Hieb- und Stichfest, Stahl und Beton.
Geschichten – vor allem unrealistische – erscheinen zu wenig greifbar, und Leute, die lieber im Hobbit-Kostüm auf der Veranda sitzen und Pfeife schmauchen, statt in Kittelschürze die Gartenschere zu schwingen, sind suspekt. Sie stellen sich dem Leben nicht, übernehmen keine Verantwortung. Sie sind auf der Flucht.
Klar, in Geschichten zu leben, das ist Realitätsflucht. Ich gehe in Räume, die ich wirklich gern bewohnen würde. Räume, die auf die Realität zurückwirken. Jede Idee von einer ‚besseren Welt‘, die jemals umgesetzt wurde, ist ursprünglich mal auf dem Mist irgendwelcher Realitätsflüchtlinge gewachsen.
Realität ist nicht real
Zudem macht in den meisten Leben ‚Realität‘ sowieso nur einen Teil dessen aus, was tagtäglich geschieht. Ein anderer, vielleicht der Größere Teil besteht aus Geschichten, die wir uns über uns selbst erzählen: Wer wir sind, was wir wollen, was uns daran hindert, das Gewollte zu erreichen, wie wir es dennoch schaffen oder daran scheitern … Ohne die Geschichten, die wir jeden Tag um uns stricken, sind wir entweder neu geboren, erleuchtet – oder tot.
Wirklichkeiten, Plural
Wenn man von ‚Realismus‘ spricht, steht das in Gegensatz zu ‚Irrealem‘ wie Wunschdenken und Verblendung. Zum Beispiel der Glaube, dass es möglich ist, eine echte Meerjungfrau zu werden (ja, gibt es). Oder mein Michael-Jackson-Fandom und Lisas Harry-Potter-Welt. Dort gibt es Menschen, die einen auf eine Weise verstehen, wie das nur Leute können, die sich im selben Kosmos bewegen. Eine Familie, der man vielleicht zeitlebens nicht im physischen Raum begegnen wird.
Ich denke da auch an seltsame Verschwörungstheorien; oft Produkte einer ziemlich kreativen Fantasie, deren Schöpfer nicht zwischen Realität und Wirklichkeit unterscheiden können. Oder an Pokémon Go, wobei irreale Figuren als digitale Wirklichkeiten in unsere Alltagsumgebung projiziert werden. An die Parallelwelt von facebook, wo das Leben so viel glamouröser, dramatischer, aufregender, erfolgreicher usw. gezeichnet wird, als es sich eigentlich anfühlt. Erfolge auf facebook zu posten hat etwas von einem magischen Ritual, das weitere Erfolge anziehen soll. Auch Medien stellen unterschiedliche Wirklichkeiten her, je nachdem, wo und von wem sie gemacht werden.
Die eine Realität ist vollgestopft mit vielen, oft widersprüchlichen Wirklichkeiten.
Sie wirken auf Gedanken und Gefühle, Werte und Moral, Lebenswege, soziale Umfelder, auf Sehnsüchte, Wünsche, Hoffnungen, Ängste, Entscheidungen. Und für die Leute, die jeweils darin leben, fühlen sie sich so real an wie sie Außenstehenden absurd erscheinen mögen.
Katharsis, ein heilsamer Affekt
Sogar auf den Körper können Geschichten einwirken. Lisa hat erzählt, dass Tolkien einmal angemerkt habe, dass sie buchstäblich heilen. Michael Jackson hat Cartoons dieselbe Wirkung zugeschrieben und sich dafür eingesetzt, dass es auf Kinderstationen in Krankenhäusern immer etwas zu lachen gibt.
Dabei geht es nicht darum, dass man ein paar Witze oder erbauliche Geschichten erzählt, um die Realität einer Krankheit zu verdrängen und auszublenden. Es geht nicht um Flucht.
Es geht darum, dass Geschichten Affekte auslösen: Freude, Erfüllung, Lösung und Gelächter stärken allesamt das reale, biologische System ‚Mensch‘. Das Wirkliche nimmt Einfluss auf das Reale. Es wirkt.
Das hat der über aller Erzähltheorie schwebende Altgrieche Aristoteles als Katharsis beschrieben: ein mentaler und emotionaler Reinigungsprozess, bei dem Ängste und Aggressionen modellhaft und sicher im Rahmen einer Geschichte ausgelöst, durchlebt und dann aufgelöst werden. Psychohygiene, damit man keine Migräne, zu hohen Blutdruck oder Warzen bekommt.
Geschichten töten gründlicher
Ebenso, wie Geschichten heilen können, können sie auch verletzen, sogar töten. Gerüchte und Lügengeschichten können das Leben eines Menschen zerstören. Michael Jackson z.B. war in mancher Hinsicht einflussreich und unbequem. Leute, die so ticken wie seine Erzfeinde (Staatsanwalt Tom Sneddon, FOX u.a.) hatten ihre Gründe, ihn loswerden zu wollen. Aber jemand Einflussreichen zu erschießen wie Martin Luther King Jr. oder JFK wäre dumm gewesen. Ein öffentlicher Mord macht den Toten zum Helden und Märtyrer. Sein Einfluss wird dadurch noch größer, denn sein Tod erhält erst dadurch Sinn, dass man nach dem Vermächtnis des Toten lebt. Seine Lebens- und Sterbensgeschichte wird zum Mythos und wurzelt fest im kollektiven Bewusstsein einer Kultur. So jemanden bekommt man dann nur schlecht wieder weg. Siehe Christentum.
Wenn man jemanden also wirklich loswerden möchte, ist es viel wirksamer, zu Lebzeiten seine Reputation zu zerstören und seine Integrität in Frage zu stellen. Das Mordinstrument: Geschichten.
Möglichkeitsspiele
Jemand geht in ein Casino und setzt an den Spieltischen seine Chips ein. Er spielt mit Möglichkeiten, die einander diametral gegenüberliegen. Auf der einen Seite plötzlicher Reichtum, auf der andern Seite herber Verlust. Je weiter die Möglichkeiten auseinander liegen, je mehr zu gewinnen und zu verlieren ist, desto größer die Spannung zwischen den Polen. Solange die Person im Spiel bleibt, ist keine der Möglichkeiten zur Wirklichkeit geronnen.
Solange ich schreibe, spiele ich ebenso mit Möglichkeiten. Beim Schreiben geht immer darum, einer Figur ein großes, lohnendes Ziel zu geben und ihr dann Steine in den Weg zu legen. Je größer die Fallhöhe, je bitterer ein Scheitern, desto spannender das Spiel. Was macht die Figur mit den Steinen, wie wird sie damit fertig? Erreicht sie ihr Ziel oder nicht? Oder erreicht sie vielleicht im Scheitern ein Ziel, das weit lohnender war, ohne dass wir beide das vorher wussten?
Ein Akt der Bewusstseinsbildung
Wenn ich schreibe, begebe ich mich in die Wirklichkeit ausgedachter Figuren, und ich lerne ich von ihnen, indem ich beobachte, welche Entscheidungen sie treffen und was das für Konsequenzen hat. Ich lege ihnen einen neuen Stein in den Weg, mache die Herausforderung etwas größer. Und schaue zu, wie die Figur daran wächst.
Es ist das Hinschauen, das Beobachten selbst, das die Entscheidungen der Figuren auslöst. Erst in dem Moment, wo ich mir einer Figur voll bewusst werde, bricht gewissermaßen die Wellenfunktion zusammen und kristallisiert sich in einem Ereignis oder einer Handlung. Was vorher vage durch Wunsch oder Ziel einer Figur vorgezeichnet war, wird konkret. Weder ich noch die Figur wissen vorher im Einzelnen, was sie im nächsten Moment sagen oder tun wird. Dennoch folgen ihre Handlungen einer inneren Notwendigkeit.
Geschichten zu schreiben ist für mich insofern ein Akt der Bewusstseinsbildung. Es lehrt mich, auf eine ganz bestimmte Weise hinzuschauen. Ich bin zugleich externe Beobachterin als auch zutiefst beteiligt, denn letztlich ist jede Figur, über die ich schreiben kann, zunächst ein Teil von mir – oder eher: ein Teilmodell von mir.
Beim Schreiben übe ich, was ich auch sonst gut gebrauchen kann: Mich nicht in Alltagsdramen zu verstricken und an etwas rumzuzerren, das gerade nicht so läuft, wie ich will. Mich stattdessen daneben zu stellen und zu beobachten.
Die Beobachterposition schafft Möglichkeitsräume für neuartige Entscheidungen. Man gewinnt etwas mehr Überblick über den bisherigen Plot und wo man gerade steht. Man erkennt das Drama als Bühnengeschehen, bei dem man zwar seine Rolle spielt, mit der man sich aber nicht zwangsläufig und ständig identifizieren muss.
Jemanden am Thema erkennen
Selbst (oder gerade?), wenn ich über Weltraummollusken, Menschenfresser oder Kronprinzessinnen schreibe, um ein wenig von mir abzulenken, gebe ich eine Menge von mir preis.
Das heißt nicht, dass ich Ereignisse aus meinem Leben abschreibe und dann mehr oder weniger stark fiktionalisiere. Ich glaube aber, dass man an den Themen erkennt, wer jemand jenseits seiner Bühnenrollen ‚wirklich‘ ist. Was in mir und durch mich wirkt.
Macht der Sprache
Da wäre einmal Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit, das mich seit jeher stark beschäftigt. Es ist für mich unfassbar faszinierend, wie schlichte Worte ganze Universen erschaffen können, mit allem, was darin lebt.
Ich frage mich ständig: Wie und wo existieren jene anderen Wirklichkeiten? Wo sind die Türen nach Narnia? Wie gelange ich in den Endlosen Wald? Wo ist der nächste Eingang in den Menger-Raum?
Dabei braucht es noch nicht einmal die opulenten Welten der großen Romane. Andere Wirklichkeiten sind überall um mich herum. Ich kann sie jederzeit betreten. Allein dadurch, wie ich im ‘real life’ mit Worten umgehe.
Aufgehobensein
Dann wäre da noch der Wunsch, mich vollkommen angenommen und aufgehoben zu fühlen in einer Welt, die vor Wundern nur so strotzt. Das könnte man als Sehnsucht nach jener furchtlosen Offenheit verstehen, die fast nur Kinder an sich haben. (Und die ich definitiv nicht mehr besitze.) Vielleicht geht es dabei darum, den Lebenskreis in meinem inneren Wirklichkeitsraum zu schließen, bevor die Realität ihn auf dem Weg des biologischen Verfallsdatums schließt? Vielleicht geht es darum, sich durchs Schreiben auf ein furchtloses Sterben einzurichten? Ich bin mir nicht sicher.
Prota oder Extra?
In jedem Fall aber ist Schreiben für mich eine Meditation, die mich immer wieder daran erinnert, dass ich sowohl Teil der realen Welt bin (vorwiegend als Statistin), als auch Schöpferin meiner eigenen Wirklichkeit (als Protagonistin). Ich kann nicht bestimmen, was passiert. Aber ich kann bestimmen, was ich für Geschichten daraus mache. Je nachdem, wie ich entscheide, erscheint das Leben im jeweiligen Moment sinnhaft oder nicht. Ich bevorzuge es zunehmend, in allem einen dienlichen Sinn zu sehen. Das fühlt sich einfach kohärenter an und macht mehr Spaß.
Ich glaube, es sind solche Kernthemen, an denen man erkennen kann, in was für einer Wirklichkeit jemand lebt. Und ich finde, das sagt weit mehr über einen Menschen, als Realien wie Alter, Beruf oder sozialer Status.
Frage:
Wenn Ihr schreibt, gibt es dann immer wiederkehrende Themen? Was sagen sie über die Wahl eurer Wirklichkeit?
Ingrid Reuper meint
Ich liebe es , durch gute Filme in eine andere Welt zu schlüpfen und so etwas über Menschen zu erfahren, die ich niemals in der Realität kennen lernen werde, weil sie in meiner Umwelt nicht vorkommen oder sich nicht offenbaren.. Ich identifiziere mich dann nicht unbedingt mit einer der Figuren, ich nehme intensiv Anteil.
Wenn ich selber etwas schreibe oder eine Fotogeschichte zusammenstelle, merke ich oft erst hinterher, dass da etwas ist, womit ich mich noch nicht auseinandergesetzt habe, in mir hoch kommt, ans Tageslicht drängt.Zu Beginn einer Geschichte weiß ich noch nicht, wie sie enden wird, ich überlasse das der Entwicklung. Vermutlich handelt es sich dabei um meine eigene innere Entwicklung, was mir aber erst später bewußt wird. In diesem Sinne ist Schreiben oder Fotografieren für mich ein kreativer Selbstfindungsakt. In unserer Person befinden sich ja viele Aspekte. In einer Geschichte können wir diese Aspekte durch verschiedene Figuren miteinander ringen lassen und mit einer gewissen Gelassenheit zuschauen, wie sich das weiter entwickelt.
Eines Abends stand der Mond gross am Himmel. Ich stand vor einem Beet, indem
ein Busch Fetthenne besonders prächtig blühte. Und plötzlich drängte sich mir die Frage auf : ” Warum interessiert Dich jetzt nicht dieser große Mond, warum gilt deine Aufmerksamkeit der Fetthenne ? ” In dieser Welt gibt es riesige Auswahlmöglichkeiten, was ist es, dass uns unsere ganz persönliche Auswahl treffen läßt ?
Ingrid Reuper meint
Nachtrag: Bei Ihnen drängt das Thema Tod ins Bewußtsein, oder ?
Karla Schmidt meint
Schreiben ist immer auch schöpferische Selbsterforschung – ja, das empfinde ich auch so!
Bei Kurzgeschichten sehe ich ebenfalls oft erst hinterher, was ich da unbewusst freigelegt habe.
Bei Romanen funktioniert das bei mir etwas anders: Da ist eine Idee, und ich muss sie oft lange auskundsachften, bevor etwas sichtbar wird, das über ein paar Hundert Seiten trägt.
Thema Tod: Ja, das stimmt wohl. Aus unterschiedlichen Gründen ist das Thema Tod seit ein paar Jahren ein ständiger Begleiter, und ich stoße immer wieder darauf.
Die buddhistische Vorstellung vom „Nirwana“, die Vorstellung vom christlichen Himmelreich, die Hoffnung auf ein „Ende der Geschichte“, die in irdischen Utopien durchscheint, …: Es geht anscheinend immer darum, dass man einen Endzustand erreicht, in dem ‚für immer alles gut‘ ist.
Wenn für immer alles gut ist, gibt es keine Konflikte mehr. Und wenn es keine Konflikte mehr gibt, endet die Geschichte. Was gleichbedeutend mit „Tod“ ist.
Vielleicht treibt das Thema mich um, weil es ein Dilemma beinhaltet: Einerseits ist „das Ende der Story“ die ersehnte „Belohnung“/“Erleuchtung“ nach einer Menge Mühsal/Meditation . Andererseits: Wer will schon, dass die Story endet? Wer will sich schon für immer im großen Ganzen auflösen und dabei sein „Ich“ verlieren?
Wenn die Geschicht schon enden/man schon sterben muss, dann soll wenigstens etwas über die individuelle Geschichte hinausweisen, oder?
Ich nehme an, darum wird kreatives/künstlerisches Schaffen auch oft als Sehnsucht nach Unsterblichkeit beschrieben oder mit dem Kinderkriegen verglichen: Man schafft etwas, das über einen selbst hinaus fortlebt.
Und es gibt in allen Kulturen Geschichten vom Tod, in denen jemand sein „Ich“ behalten darf: Reisenden, die ins Totenreich und wieder zurückgefunden haben, um davon zu berichten. Nahtoderfahrungen, Geistergeschichten – das sind alle Tote, die trotzdem noch eine Geschichte haben! Faszinierend!
In gewisser Weise ist Tod also vielleicht auch einer von vielen Möglichkeitsräumen.
Ingrid Reuper meint
Ich glaube, die Erlösung liegt in dem erlebten : ” Ob ich das bin oder Du, ist gar nicht so wichtig ! ” Ich habe einmal gelesen, wie einem Mann beim Betrachten einer erhabenen Bergwelt dieses Wissen als Wahrheit überfiel. Ich konnte mich der geschilderten Wahrheit nicht entziehn, habe sie aber noch nicht selbst erlebt. Unser ” Ich ” können wir sicherlich nicht mit ins Jenseits nehmen, es beruht ja letztlich nur auf unserem Erinnerungsvermögen. Manchmal habe ich mich gefragt, ob die Alzheimer Erkrankung nicht die Antwort auf unsere Überbetonung des Ich ist, so nach dem Motto : ” Und bist Du nicht willig, so brauch ich Gewalt. ” An dieser Krankheit wird doch schließlich sehr deutlich, dass unsere ganze Persona an unserem Erinnerungsvermögen hängt.
Ingrid Reuper meint
Früher habe ich immer geglaubt, dass ich über meine Kinder fortleben kann.Schließlich gibt man seine Gene weiter. Und nun fehlen die Enkel.Das ist das Ende einer Gengeschichte.
Ingrid Reuper meint
Wer will sich schon für immer im großen Ganzen auflösen und dabei sein „Ich“ verlieren?
Es gibt durchaus Neptuniker, die das gerne möchten. Sie haben sogar eine Lehre daraus gemacht ( Mystik ).
Ich bin ein sehr erdverbundener und praktischer Mensch. Deshalb glaube ich, dass ich mein ” Ich” brauche, um zu überleben.Das schließt aber nicht aus, dass man es für eine kurze Zeit einmal aufgibt, indem man den Tod akzeptiert. Wenn man die Angst vor dem Tode aufgibt – aus was für Gründen auch immer -dann löst sich eine Blockade und man erfährt einen ungeheuren Energieschub.
Ich habe Sterbende beobachtet. Kurz vor ihrem Tode flackert ihr Lebenslicht noch einmal auf.Manche überfällt eine große Klarsicht. Meine Großmutter sagte morgens: ” Heute braucht ihr mein Bett nicht mehr zu machen, heute Nachmittag sterbe ich.” Nachmittags verschied sie dann, sie hatte den Tod akzeptiert.Mit meinem Vater hatte ich ein ähnliches Erlebnis. Meine Mutter kämpfte bis zum Schluß, sie fiel ins Koma.
Die Frage, ob wir sterben wollen, stellt sich doch gar nicht. Der Tod ist uns gewiß.
Wie sagt Goethe doch so schön : ” Und alles Wollen war nur ein Wollen , weil wir sollten.”
Ingrid Reuper meint
Wenn die Geschicht schon enden/man schon sterben muss, dann soll wenigstens etwas über die individuelle Geschichte hinausweisen, oder?
Wir hinterlassen Spuren, ohne das zu bemerken und wirken so fort. Jede geistige und seelische Fortentwicklung eines einzelnen Menschen , kommt der gesamten Menschheit zu gute.
Was haben Sie nach Ihrem Tode davon, wenn die Menschheit Ihnen ein Denkmal setzt oder gar zu Ihren Ehren einen Feiertag einrichtet?
Ich bin für das Hier und Jetzt.
Ingrid Reuper meint
Hier ist ein Auszug aus Mathias Renard ‘s neuem Roman Kompass, den ich mir selbst unter den Christbaum lege. Ich wünsche allen ein gelungenes Weihnachtsfest – jeder nach seiner Art – und ein gesegnetes Neues Jahr.
Wir sind zwei Opiumraucher, jeder in seiner Wolke, ohne etwas drau-
ßen zu sehen, allein, ohne uns je zu verstehen, wir rauchen, sterbende
Gesichter in einem Spiegel, wir sind ein gefrorenes Bild, dem nur die
Zeit den Anschein von Bewegung verleiht, ein Schneekristall, der auf ein
Raureifknäuel gleitet, dessen komplexes Geflecht niemand wahrnimmt,
ich bin dieser kondensierte Wassertropfen an der Fensterscheibe mei-
nes Wohnzimmers, eine flüssige Perle, die hinabrinnt und nichts vom
Dampf weiß, aus dem sie hervorgeht, und nichts von den Atomen, aus
denen sie noch besteht und die bald andere Moleküle bilden werden,
andere Gebilde, die Wolken, die heute Abend tief über Wien stehen: Wer
weiß, in welchen Nacken dieses Wasser rinnen wird, über welche Haut,
auf welchen Gehsteig, zu welchem Fluss, und dieses verschwommene
Gesicht auf dem Glas ist nur einen Augenblick lang meines, eine der
Millionen Konfigurationen, die sich in der Einbildung formen können –
Das Leben ist ein schmerzendes Spiegelbild, der Traum eines Opium-
süchtigen, ein Gedicht von Rumi, gesungen von Shahram Nazeri, das
Ostinato des Zarb lässt die Fensterscheibe unter meinen Fingern leicht
zittern wie die Haut der Trommel, statt zu schauen, wie Herr Gruber im
Regen verschwindet, statt den sich in die Höhe schraubenden Melismen
des iranischen Sängers zu lauschen, dessen Kraft und Timbre manch
einem unserer Tenöre die Schamesröte ins Gesicht treiben könnten, soll
te ich lieber mit meiner Lektüre fortfahren. Ich sollte die CD anhalten,
mich dabei zu konzentrieren ist unmöglich; obwohl ich diesen Sonder-
druck zum zehnten Mal lese, verstehe ich seinen rätselhaften Sinn nicht,
zwanzig Seiten, zwanzig entsetzliche, lähmende Seiten, die ausgerech-
net heute bei mir angekommen sind, heute, wo ein mitfühlender Arzt
meiner Krankheit vielleicht einen Namen gegeben und meinen Körper
offiziell für krank erklärt hat, nachdem er fast mit Erleichterung eine
Diagnose meiner Symptome stellen konnte – den Todeskuss –, eine Dia-
gnose, die noch bestätigt werden muss, während, wie er meinte, die
Behandlung schon beginnen und der weitere Verlauf abgewartet wer
den sollte, den Verlauf, so weit sind wir also schon, den Verlauf eines
Wassertropfens beobachten bis zu seinem Verschwinden, bevor er sich
im Großen All neu bildet.
Es gibt keine Zufälle, alles hängt zusammen, würde Sarah sagen.