In meiner Schreibgruppe haben wir letztens über emotionale Beats in Romanen gesprochen und festgestellt: Ohne die funktionieren Geschichten ebenso wenig wie ohne die gewohnten Grundzutaten Plot und Spannungskurve. Der Plot beschreibt den Zusammenhang von Ursache und Wirkung in einer Geschichte. Er sorgt dafür, dass alles logisch auseinander hervorgeht. Und eine Spannungskurve beschreibt, wie Konflikte aufgebaut und gelöst werden. Dabei muss für jede gelöste Frage oder jedes gelöste Problem mindestens eine neue Frage oder ein neues Problem auftauchen, damit es spannend bleibt.
Das erklärt aber nur zum Teil, warum Leser dranbleiben und weiterlesen wollen. Was neben Stimmigkeit und Spannung noch fehlt, ist die emotionale Beteiligung der LeserInnen. Ein emotional intensives Leseerlebnis entsteht durch kleine und große emotionale Beats und das Wechselspiel zwischen der äußeren Handlung und der inneren Story einer Geschichte. Ich habe mal versucht, das in einer Grafik auszudifferenzieren:
Emotionale Beats
Äußerer Plot versus innere Story
Romane sind in gewisser Weise Konfliktlösungs- und Entwicklungsmodelle sind. Sie beschreiben, wie Figuren mit Problemen konfrontiert werden, etwas hinzulernen und die Probleme lösen. Das bedeutet, Hauptfiguren müssen sich im Verlauf einer Geschichte verändern und innerlich wachsen. Sie verfolgen ein (zunächst oft falsches) Ziel, erkennen dabei ihr wahres Bedürfnis und müssen ihre größten Ängste und Fehler überwinden, damit es am Ende erfüllt werden kann. Der Plot kann dabei die verschiedensten Formen annehmen, und ob LeserInnen lieber ChickLit, Thriller, anspruchsvolle Zeitgeistromane oder Science Fiction lesen, ist Geschmackssache.
Von Autoren wie Verlagen wird jedoch oft unterschätzt: Für LeserInnen entscheidend ist die innere Story der Hauptfiguren. Ob sie emotionale ergreifend und überzeugend ist, entscheidet mit über Erfolg oder Nichterfolg eines Romans.
MERKE |
Wichtiger als das Erreichen des äußeren (Plot-)Ziels ist die Befriedigung des wahren inneren Bedürfnisses der Hauptfigur. Hier findet die eigentliche Story statt, die Leser an Ihre Figuren bindet. |
Was ist die innere Story eines Romans?
Die innere Story ist das emotionale Auf und Ab, das Figuren im Verlauf der Geschichte erleben. Jede Hauptfigur, die eine Geschichte betritt, hat Stärken und Schwächen und schleppt bereits emotionale Altlasten mit sich herum. Sie hat Wünsche und Ziele, Probleme und offene Lebensfragen. Wäre es nicht so, würde es sich nicht lohnen, über diese Figur zu schreiben, denn dann hätte sie nicht den geringsten Grund, an ihrem Leben etwas zu verändern und dabei eine Entwicklung durchzumachen.
Damit die innere Story funktioniert, baucht man:
1: Die Grundangst der Hauptfiguren
Sie liegt in ihrer sogenannten Backstory. Die Backstory ist nicht die gesamte Biografie einer Figur, sondern es handelt sich dabei um ein traumatisches oder prägendes Erlebnis, das vor Beginn der Romanhandlung liegt. Dieses Erlebnis löst eine Grundangst aus, die die Figuren daran hindert, das zu tun, was nötig ist, um ihr wahres emotionales Bedürfnis zu befriedigen.
Der Tiefenpsychologe Fritz Riemann hat vier menschliche Grundängste beschrieben, mit denen die meisten Menschen mehr oder weniger zu kämpfen haben. Für Geschichten ist seine Einteilung sehr hilfreich, weil sie klar und prägnant ist.
Vier menschliche Grundängste nach Riemann:
- Die Angst vor Nähe. Sie wird von Menschen als Ichverlust und Abhängigkeit erlebt. In der Folge sind solche Leute oft Einzelgänger.
- Angst vor dem Alleinsein. Sie wird erlebt als fehlendes Geborgensein, Isolierung, Einsamkeit. Menschen mit dieser Grundangst neigen zu Depressionen.
- Angst vor Stillstand. Sie wird erlebt als Endgültigkeit, Unfreiheit, Angst vor Erstarrung, die als Tod empfunden wird. Aus der Angst vor dem Stillstand können sich hysterische Symptome entwickeln.
- Angst vor Veränderung. Sie wird erlebt als Vergänglichkeit, Unsicherheit, Angst vor dem Sterben und kann zu zwanghaftem Verhalten führen.
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Damit eine Figur ihr wahres inneres Bedürfnis erfüllen kann, muss sie ihre Grundangst überwinden. |
2: Man braucht drei bis vier (vorherrschende) äußere Topics
Wenn jemand nach dem Thema einer Geschichte fragt, was antwortet man? Bezieht man sich dann auf die Handlung, das Setting, Zeit und Ort oder das emotionale Thema? Oft ist gar nicht klar, was mit dem Begriff „Thema“ überhaupt gemeint ist. Aus diesem Grund unterscheide ich zwischen den äußeren Topics eines Romans und dem inneren Thema.
Äußere Topics sind das, worum es in einer Geschichte auf der Außenseite / der Plotseite geht. Das könnten z.B. Pferdezucht, Tourismus, schottische Clans, Arbeit (als Anwalt, Soldat, Polizistin, …), Krebs, Shopping, Rassismus, Familie, Sex, Pflegekinder, … usw. sein.
Die Figuren arbeiten sich an diesen Topics ab und reden darüber, und hier liegen auch ihre äußeren Ziele, die sie zu erreichen versuchen. Vielleicht möchte eine Figur z.B. den Krebs überleben oder ein Hotel in den Karpaten eröffnen.
Erfolgreiche Romane haben meist drei bis vier vorherrschende Topics, und eines dieser Topics ist fast immer ‚menschliche Nähe‘. Das heißt, Figuren suchen danach oder vermeiden sie, und sie reden entsprechend miteinander oder übereinander. Eine Geschichte hat also mehrere Topics.
Sie hat aber nur ein inneres Thema.
3: Man braucht einziges inneres Thema
Innere Themen sind z.B.: Sehnsucht nach Freiheit oder Liebe, Hass und Drang nach Rache, die Suche nach Identität, der Schmerz der Einsamkeit, unstillbares Begehren, … Das innere Thema gibt den Figuren einen Antrieb, der sie zum Handeln zwingt. Es führt dazu, dass sie sich als Persönlichkeit weiterentwickeln müssen, wenn sie ihre tiefsten emotionalen Bedürfnisse stillen wollen.
MERKE |
Egal, wie aktionsgeladen und spannend die äußere Handlung sein mag – ohne das innere Thema bleibt ein Roman flach und emotional bedeutungslos. |
Nebenhandlungen spiegeln das innere Thema
Natürlich liegt der Haupthandlung eines Romans das innere Thema zugrunde. Doch auch jede Nebenhandlung ist eine Variation darauf.
Am Beispiel des Themas Eifersucht
- Die Heldin des Romans verliert den Helden zunächst aufgrund ihrer krankhaften Eifersucht. Ihre Grundangst ist die vor dem Alleinsein. Es gelingt ihr erst, ihn zurückzuerobern, als sie ihre Angst überwindet und lernt, ihm und ihrer beider Liebe zu vertrauen.
- Eine männliche Nebenfigur hingegen kann nicht aufhören, seine Freundin ständig zu kontrollieren. Er bekommt keine starke, erwachsene Traumfrau, sondern ein verhuschtes Frauchen, deren gesamtes Denken darum kreist, bei ihrem Mann nur ja kein Misstrauen zu erregen.
- Eine dritte Figur gibt das Konzept monogamer Zweisamkeit ganz auf. Sie glaubt nicht mehr an die romantische Liebe und beschränkt sich auf oberflächliche Kurzeitbeziehungen und sexuelle Abenteuer.
4: Man braucht eine Prämisse
Die Prämisse ist ein Aussagesatz, der im Rahmen einer Geschichte absolut wahr ist. Die Geschichte ist sozusagen eine einzige Beweisführung für diesen einen Satz.
Beispiele:
Liebe ist egoistisch und führt zum Tod.
Liebe ist selbstlos und schafft Leben.
Ob ein Roman auf der Außenseite nun im Weltraum, in den Stollen eines Bergwerks oder zwischen Frankreichs Lavendelfeldern spielt: Je nachdem, welcher Prämisse man folgt, entsteht daraus eine völlig andere Geschichte.
Die Prämisse bezieht sich also nicht auf die Topics, sondern auf das Thema einer Geschichte – in diesem Fall Liebe. Durch die Konflikte, die die Figuren im Verlauf des Romans lösen müssen, erfahren wir, von wo nach wo das Thema sich entwickelt. Und dadurch, wie die Geschichte ausgeht, wird eine Aussage zu diesem Thema getroffen. Jeder dieser drei Teile ist für eine emotional funktionierende Geschichte unverzichtbar.
Beispiel:
Wider alle Vernunft Vertrauen zu wagen führt zu tiefer Liebe.
- Das innere Thema der Geschichte: Vertrauen.
- Konflikt: wider alle Vernunft zu wagen.
- Auflösung des Konflikts / Ausgang der Geschichte: führt zu tiefer Liebe.
Fassen wir bis zu diesem Punkt zusammen, was wir haben:
- Wir haben einen Plot mit mehreren vorherrschenden Topics.
- Wir haben eine Hauptfigur mit einer Backstory und einer Grundangst.
- Die Grundangst sorgt dafür, dass die Figur ein bestimmtes (oft falsches) äußeres Ziel verfolgt.
- Die Grundangst muss durch das Lösen von Problemen und Konflikten überwunden werden, damit die Figur ihr wahres, emotionales Bedürfnis stillen kann. Das Motto für Hauptfiguren lautet also: Stell dich deiner größten Angst!
- Das emotionale Bedürfnis ist das innere Thema der Geschichte.
- Das innere Thema, der Konflikt und wie er endet ergeben zusammen die Prämisse.
- Die Prämisse beschreibt die innere Entwicklung Ihrer Hauptfigur.
Emotionale Umschlagpunkte
Damit kommen wir zu den zentralen Fragen:
- Wie bringt man die innere Entwicklung der Hauptfigur voran?
- Wie bringt man Figuren dazu, sich ihrer größten Angst zu stellen und sie zu überwinden?
- Wie bringt man Leser dazu, emotional voll mitzugehen?
Erstens natürlich mit Hilfe des Plots; man bringt die Hauptfigur immer wieder in Situationen, in denen sie emotional mutige Entscheidungen treffen muss, um nicht zu scheitern.
Und zweitens mit Hilfe emotionaler Umschlagpunkte. Ein emotionaler Umschlagpunkt oder Beat ist ein Moment im Verlauf der Geschichte, in dem eine hoffnungsvolle, emotional helle Situation in eine hoffnungslose, emotional finstere Situation umschlägt – oder genau umgekehrt.
Beispiel:
Erst geht es aufwärts (hoffnungslos à hoffnungsvoll): Sie glaubt, er ist in ihre viel interessantere, wildere Schwester verliebt und rechnet sich keine Chancen bei ihm aus. Dann spricht er sie an und fragt, ob sie ein schönes Café in der Nähe kennt.
Dann geht es abwärts (hoffnungsvoll à hoffnungslos): Sie denkt, er will mit ihr in dieses Café gehen. Aber er hat nur gefragt, weil seine Mutter zu Besuch kommt und er einen ‚elterntauglichen‘ Tipp brauchte.
Solche kleinen Umschlagpunkte finden sich in jedem Kapitel eines Romans – und wenn sie fehlen, hat man schnell das Gefühl, dass es nicht vorangeht oder dass einem die Figuren gleichgültig bleiben.
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Ein emotionaler Umschlagpunkt / Beat ist ein Moment, in dem eine hoffnungsvolle in eine hoffnungslose Situation umschlägt – oder genau umgekehrt. |
Ein Roman braucht neben vielen kleinen emotionalen Beats auch wenigstens zwei, besser fünf bis sieben große emotionale Umschlagpunkte.
Beispiel:
Abwärts: Ein junges Paar verlobt sich bei einem Familienfest. Am selben Tag marschieren die Deutschen in Frankreich ein und der Mann, ein Jude, muss sofort untertauchen. Er weiß nicht, dass seine frisch Verlobte schwanger ist. Sie wollte es ihm später sagen, wenn sie allein sind.
Aufwärts: Der Mann ist für Tage von der Bildfläche verschwunden und die Frau hat kaum Hoffnung, ihn wiederzusehen, als sie Nachricht von ihm erhält. Er ist bei der Résistance gelandet und bittet sie, ebenfalls dem Widerstand beizutreten. Sie trifft ihn eröffnet ihm, dass sie schwanger ist. Beide wissen, es kommen schwere Zeiten auf sie zu. Dennoch sind sie voller Hoffnung und glücklich.
Abwärts: Bei einer Plakataktion wird der Mann erwischt und festgenommen.
Aufwärts: Trotz der großen Gefahr helfen die Freunde aus der Widerstandsgruppe, einen Befreiungsplan zu schmieden.
Abwärts: Als die junge Frau und ihre Kameraden am Ort den Mann befreien wollen, erfahren sie, dass er bereits ermordet wurde.
Aufwärts: Später, die Frau ist hochschwanger, heißt es, ihr Verlobter sei in einer andern Stadt gesehen worden. (Er hat seine Identität mit jemandem getauscht, der todkrank war und ohnehin nur noch Tage zu leben hatte und wurde so gerettet.)
Abwärts: …
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Je größer die Amplitude, desto stärker die Wirkung
Wer sich jetzt überlegen, welche großen emotionalen Umschlagpunkte es in einem Text geben könnte, an dem er/sie gerade schreibt, kann auf Folgendes achten:
Geschichten, die sich emotional vorwiegend in der finsteren oder in der hellen Zone aufhalten, packen LeserInnen insgesamt weniger, als solche, die ihre Leser einem ständigen Wechselbad der Gefühle aussetzen. Natürlich gibt es Geschichten mit einer fröhlichen oder mit einer düsteren Grundstimmung. Doch in jeder Geschichte gibt es so etwas wie eine emotionale Null-Linie, die für die Hauptfigur in etwa so aufregend ist wie Zähneputzen oder Kaffeekochen. Diese Nulllinie entspricht ihrem Grundgefühl im Alltag.
Über diese Nulllinie sollten Figuren sich immer wieder hinwegbewegen – unabhängig von der Grundstimmung einer Geschichte. Es ist die emotionale Achterbahnfahrt, die Leser packt und sie alles intensiv miterleben lässt.
Glaubwürdigkeit und Stimmigkeit
Dabei ist es natürlich wichtig, dass die Vorgänge glaubwürdig bleiben. Es geht nicht darum, möglichst viel emotionales Drama nur um seiner selbst willen zu erzeugen.
Es ist also erstens wichtig, dass der Plot an jeder Stelle logisch und stimmig ist. Und zweitens sollten die emotionalen Reaktionen der Figuren ihnen entsprechen und glaubwürdig sein. Wenn jemand also zum Beispiel Angst vor dem Alleinsein hat, wird es ihn weniger hart treffen, wenn seine neue Flamme sagt:
Meine Wohnung wurde fristlos gekündigt, weil ich einen Wasserschaden verursacht, Orgien gefeiert und die Miete nicht gezahlt habe. Ich ziehe morgen bei dir ein.
Für einen eingefleischten Junggesellen, der Angst vor Nähe hat oder einen Ordnungs-Pedanten mit einer ausgeprägten Angst vor Veränderung könnte das allerdings eine echte Horrorvorstellung sein.
Der Text entspricht der Minilektion für das nächste Live-am-Text-Webinar am 18.05.2017. Wer am Webinar teilnehmen möchte und vielleicht vorher einen Text abgeben möchte, kann bitte diesem Link folgen. Die Teilnahme am Webinar ist wie immer kostenlos.
Buchtipps
- Jodie Archers und Matthew L. Jockers The Bestseller Code untersucht unter anderem die Funktionsweise emotionaler Beats an konkreten Beispielen. (Leider bisher nur auf Englisch)
- Fritz Riemanns Grundformen der Angst ist eine hilfreiche Lektüre, wenn man üben möchte, emotional glaubwürdige Figuren zu entwickeln.
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